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15. Januar 2021
Redaktion
3-D-Druck

Künftiger Standard für Orthesen

Foto: Sanitätshaus Klinz

Herr Klinz, sehen Sie sich selber als einer der Pioniere in Sachen 3-D-Druck in der Orthopädietechnik? Wie kam es dazu, dass Sie sich intensiver mit dem Thema 3-D-Druck beschäftigten?
Ich bin immer sehr interessiert an neuen Technologien und irgendwann hatte ich die Information aus den Medien, dass demnächst ein komplettes Wohnhaus aus dem Drucker produziert wird. Das hat mich so fasziniert, dass dieses Thema im Hinterkopf abgespeichert wurde.

Wie sahen die ersten konkreten Schritte aus?
Die ersten konkreten Schritte haben sich entwickelt und gefestigt durch das Kennenlernen meiner jetzigen Mitarbeiterin Maria Köhlitz, die damals noch ihr Studium zur Industriedesignerin absolvierte und sehr daran interessiert war, bei uns ihre Masterarbeit umzusetzen. Da kam die Idee, sie für das Thema 3-D-Druck in der Orthopädietechnik zu begeistern, sodass wir auch relativ schnell das Thema für ihre Arbeit formuliert haben: „Inte­gration der generativen Fertigungstechnologie in der Orthopädietechnik“.

Mit der neuen Technologie ist ja auch zusätzliches Know-how verbunden – wo kommt das her?
Wichtig bei einem solchen Projekt ist, dass man genau weiß, wann und wo man solche Technologien zum Einsatz bringen will. Das dafür notwendige Know-how eigneten wir uns dank der umfangreichen Recherchen von Maria Köhlitz an. Das brachte uns dazu, herauszufinden, welche Anforderungen für unser Handwerk notwendig sind, um dann auch die technischen Voraussetzungen dafür zu schaffen.

Sträuben sich einem geerdeten Handwerker beim Thema 3-D-Druck und Digi­talisierung nicht alle Haare? Stichwort: Synthese statt Konfrontation.
Ganz groß und dick: Nein! Ich bin persönlich mit meinen 62 Jahren schon seit 45 Jahren in dem Beruf tätig und nehme jetzt gerade mit viel Freude und Stolz an dem zweiten Umschwung (von der Holz- zur Gießharztechnik und nun zur additiven Fertigung) in unserem Handwerk aktiv teil. Synthese bedeutet die Vereinigung von Gegensätzen zu einem höheren Ganzen, und genau das trifft hier zu. Ziel muss es sein, unsere Patienten auf die bestmögliche Art und Weise zu versorgen. Um das zu erreichen, müssen wir die konventionellen und die neuartigen Technologien vereinen.

Wenn der Chef vorangeht, ist das ja die eine Seite, aber er muss ja auch die Mitarbeiter mitnehmen. Wie waren hier anfangs die Reaktionen im Team und wie ist die Stimmung heute?
Das ist ein lang andauernder und langsamer Prozess. Anfangs sind wir mit der Einführung des 3-D-Drucks bei einem Großteil der Werkstattmitarbeiter auf Skepsis gestoßen. Mir ist es wichtig, meinen Mitarbeitern die Synthese zwischen Handwerk und der neuen Technologie näher zu bringen und ihnen zu verdeutlichen, dass der Beruf des Orthopädietechnikers weiterhin von immenser Wich­tigkeit in der Behandlung von Patienten ist. Lediglich die Werkzeuge des Technikers ändern sich. Mittlerweile zeichnet sich hinsichtlich der Akzeptanz ein positiver Trend im Unternehmen ab.

Ergänzung zum Handwerk, nicht Ersatz

Wo liegen die Chancen und die Grenzen von Digitalisierung, 3-D-Scan und 3-D-Druck im OT-Bereich?
Die Chancen sind eindeutig. Wir können heute orthopädische Hilfsmittel herstellen, die eine hohe Passform und Qualität besitzen, die vorher nicht erahnbar waren. Wir können es zudem wagen, über den Tellerrand der klassischen Orthopädietechnik hinauszuschauen, da wir durch die additive Fertigung viel mehr Möglichkeiten bekommen. Kritisch betrachtet, sind die im 3-D-Druck verarbeiteten Materialien bisher kein 100-prozentiger Ersatz für die konventionell verarbeiteten Materialien. Auch die Wirtschaftlichkeit ist noch nicht bei allen Versorgungen gegeben. Der 3-D-Druck im OT-Bereich muss derzeit als Ergänzung zum Handwerk und nicht als Ersatz des Handwerks gesehen werden. Getreu dem Motto: Das Rad muss nicht neu erfunden werden, solange es danach nicht von alleine rollt.

Kommen wir auf den Alltag zu sprechen: In welchen Produktbereichen setzen Sie 3-D-Druck ein?
Die Anwendungsbereiche der Technologie sind jetzt schon vielseitig. Bei uns kommt die generative Fertigung haupt­sächlich in der Orthetik der oberen und unteren Extremitäten zum Einsatz. Einer der Schwerpunkte liegt hierbei in der Kinderorthopädie. Auch unsere Silikonwerkstatt profitiert von dreidimensionalen Formvorlagen zur Fertigung von Silikonprothesen und -orthesen. Außerdem haben wir bereits einige Patienten mit Unterschenkel-Prothesen aus dem 3-D-Drucker versorgt und dabei durchweg positive Erfahrungen sammeln können.

Hohe Investitionen

Welche technischen Voraussetzungen sind notwendig?
Wie hoch sind die Investitionen in Geräte, gab es hierfür evtl. Zuschüsse oder Förderprogram­me? Man benötigt leistungsstarke PCs, Soft- und Hardware inkl. Scanner und haptischer Eingabegeräte und natürlich Mitarbeiter, die diese bedienen können. Wir stemmen die Investition im hohen fünfstelligen Bereich seit vier Jahren aus eige­ner Kraft.

Wie sind die personellen Voraussetzungen?
In diesem Bereich streite ich mich immer mit Kollegen. Ich persönlich bin der Meinung, dass man für die neue Technologie in der Form, wie wir sie betreiben, andere Berufsgruppen hinzuziehen sollte. Konkret haben wir jetzt eine Ingenieurin und eine Industriedesignerin in Festanstellung und dazu regelmäßig Studierende, die ihre Praktikums-, Bachelor- oder Mas­terarbeiten bei uns schreiben und uns somit unterstützen. Weiterhin beschäftigen wir in gleichberechtigter Stellungunsere Orthopädietechnikermeister. Ich bin fest der Meinung, dass nur diese Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen uns in dieser relativ kurzen Zeit zu diesem Erfolg gebracht hat.

3-D-Druck ausgelagert

Mit welchen externen Partnern arbeiten Sie zusammen und wie sind die Abläufe?
In der Herstellungskette stehen wir an ers­ter und an letzter Stelle. Wir scannen unsere Patienten, modellieren das digitale Modell und konstruieren darauf das Hilfsmittel. Nachdem wir die Rohmaterialien erhalten haben, erfolgen noch Nacharbeiten, wie z. B. das Anbringen von Verschlüssen oder Gelenken. Lediglich das Drucken haben wir ausgelagert. Das liegt vor allem daran, dass Hochleis­tungsdrucker in der Anschaffung als auch im laufenden Betrieb bei geringer Auslas­tung durch geringe Stückzahlen für ein mittelständisches Unternehmen in unserer Branche wirtschaftlicher Wahnsinn wäre. Gerade bei Orthesen gibt es damit mehrere Wege zur Versorgung: indus­triell gefertigte Produkte, die angepasst werden, reine handwerkliche Herstellung und eben 3-D-Druck. Wie kommen diese drei Methoden zu einem harmonischen Miteinander bzw. wie können sie sich ergänzen? Die drei Versorgungswege sind nicht zu vergleichen, da alle Vor- und Nachteile mit sich bringen.Industriell vorgefertigte Orthesen sind standardisierte Hilfsmittel, die für kurze Zeit im Akutbereich zum Einsatz kommen. Dort wäre der Einsatz für Drucktechnologie nicht sinnvoll und auch nicht notwendig. Wie bereits erwähnt, gehen die verwendeten Materialien und deren Eigenschaften mit den Fertigungsverfahren einher. Es geht bei der digitalen Hilfsmittelversorgung nach Maß nicht darum, bestehende Versorgungen zu ersetzen, sondern die Technologie zu nutzen und die Versorgungen zu verbessern. Bietet eine 3-D-gedruckte Versorgung weder technisch, zeitlich oder wirtschaftlich keinen Vorteil gegenüber der konventionellen Versorgung, gibt es keinen Grund, sie Letzterer vorzuziehen.

Und wie steht es hinsichtlich Medizinprodukte-rechtlicher Vorgaben, Stichwort: Eigenherstellung & MDR?
Durch die digitale Fertigung ändert sich hinsichtlich der regulatorischen Anforderungen an die Medizinprodukte nichts. Weiterhin stellen wir orthopädische Hilfs­mittel nach Maß her. Die Biokompatibilität des verwendeten Druckmaterials PA12 ist nach ISO 10993-1 und nach USP Class I-VI nachgewiesen. Auch die Herstellung im Sinne der Konstruktion erfolgt in unserem Unternehmen. Lediglich die Fertigung des Rohmaterials erfolgt extern, wie es auch im konventionellen OT-Handwerk üblich ist. Die Fertigstellung der Hilfsmittel mit Verschlüssen, Gelenken etc. geschieht in unserer OT-Werkstatt.

Image-Gewinn

Welche Vorteile bietet der 3-D-Druck Ihrem Sanitätshaus – etwa hinsichtlich Kosten, Image, Verkürzung von Produktionszeiten?
Unabhängig von den Anschaffungskos­ten für die Technik produzieren wir kos­tenneutral. Der größte Faktor für uns ist das deutlich verbesserte Image für unser Unternehmen, und langfristig ist das eine Antwort auf den steigenden Fachkräftemangel in der Branche.Die Dauer der Produktionszeiten ist nicht das entscheidende Kriterium in der OT. Um Patienten zeitnah versorgen zu können, gibt es konfektionierte Hilfsmittel.

Könnte der 3-D-Druck manche gewohn­ten handwerklichen Schritte künftig überflüssig machen?
Wo sehen Sie die Technologie in Ihrem Betrieb in fünf und zehn Jahren?   Ein Gipsabdruck wird in naher Zukunft nicht mehr notwendig sein. Somit wird der Gipsraum zunächst verkleinert werden, bis er schließlich irgendwann ganz wegfällt und der entstandene Freiraum durch digitale Werkzeuge ersetzt werden kann. Das sind Prozesse, auf die kein Einfluss genommen werden kann und die wir auch nicht aufhalten werden.

Kommt die Branche insgesamt an dem Thema nicht mehr vorbei? Werden Sie von Kollegen gebeten, in Erfa-Gruppen oder auch bei Sanitätshaus Aktuell Ihre Erkenntnisse zu teilen?
Die OT-Betriebe werden an diesem Thema nicht vorbeikommen, wenn sie auf diesem Markt bestehen möchten. Das Interesse der Kollegen ist vorhanden und wir sind gern bereit, unsere Erfahrungen mit den Kollegen auszutauschen. Die Ziele, die Sanitätshaus Aktuell verfolgt, differenzieren sich derzeit von den unseren.

Wie reagieren die Kunden auf diese neue Technologie und welche Vorteile bietet sie diesen?
Unsere Patienten reagieren durchweg positiv, bis hin zur Faszination. Wir haben bisher keinerlei negatives Feedback zu unseren 3-D-gedruckten Hilfsmitteln erhalten. Durch die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten im Hinblick auf die Individualisierbarkeit entstehen eine große Akzeptanz, längere Tragezeiten und ein verbessertes Therapieergebnis.

Herr Klinz, wir danken für das Gespräch.

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Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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