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28. April 2022
Redaktion
BVMed / Versorgungskritische Medizinprodukte

Digitale Bestandsplattform nötig

Corona kam und die Versorgung mit Teilsegmenten des Medizinproduktemarktes ging in Deutschland in die Knie. Der Bundesverband Medizintechnologie betrieb Ursachenanalyse. Die Erkenntnis: Es gab weniger ein Mangel-, sondern vor allem ein Zuteilungsproblem. Geboren war damit schon 2020 die Idee einer „Digitalen Bestandsplattform versorgungskritischer Medizinprodukte“.
Dr.
Foto: BVMed
Dr, Meinrad Lugan, Vorstandsvorsitzender des BVMed

Mittlerweile ist einige Zeit ins Land gegangen. Zeit also, beim BVMed den Status quo abzurufen. Im Gespräch mit MTD steht Dr. Meinrad Lugan, Vorstandsvorsitzender des BVMed, Rede und Antwort. Seine zentrale Botschaft: Die Medizinprodukte-Industrie steht für smarte Lösungen bereit, um die Verteilung versorgungskritischer Medizinprodukte in Krisensituationen über eine Bestandsdatenbank mit offenen GS1-Schnittstellen besser zu organisieren.

Herr Dr. Lugan, aufgrund der negativen Erfahrungen hinsichtlich der Versorgung mit Medizinprodukten im ersten Corona-Jahr hat der BVMed im Mai 2020 die Schaffung einer „Digitalen Bestandsplattform versorgungskritischer Medizinprodukte“ vorgeschlagen. Was waren die konkreten Auslöser für diesen Vorstoß?

Zu Beginn der Corona-Krise kam es zu einer Nachfrageexplosion für einige Medizinprodukte und Pharmazeutika zur Intensivbehandlung. Dabei zeigte sich die außerordentlich hohe Abhängigkeit von außereuropäischen Herstellern bei einigen ausgewählten versorgungskritischen Produkten, beispielsweise medizinischer Schutzausrüstung. Hinzu kamen spontane und multiple Bestellungen, auch unkoordinierte Doppelbestellungen, die zu Lieferengpässen führten.

Ein weiterer Faktor in diesen ersten Wochen der Pandemie waren Kettenreaktionen durch „protektionistische“ Aktivitäten einiger Staaten, die die komplexen Lieferketten unterbrachen.

Interessant ist aber folgende Erkenntnis aus unserer Analyse von dem, was in der Anfangszeit geschah: Für über 80 Prozent aller versorgungskritischen Produkte gab es gar keinen Mangel, sondern ein Verteilungsproblem. Nur für weniger als 20 Prozent relevanter Produkte wäre ein Krisen-Lager oder eine Krisen-Produktionskapazität erforderlich gewesen.

Den Großteil diesbezüglich könnten wir durch smarte digitale Lösungen in den Griff bekommen. Deshalb hat der BVMed als Lösungsangebot an die Politik das Konzept einer „Digitalen Bestandsplattform versorgungskritischer Medizinprodukte“ erarbeitet.

Welche Punkte sprechen aus Sicht des Verbandes für die Schaffung einer solchen digitalen Bestandsplattform?

Wenn Lieferengpässe gar nicht so sehr auf einem Mangel an Produktion, sondern an deren mangelhafter Koordination und Verteilung beruhen, dann benötigen die politischen Entscheider in Krisenzeiten vor allem eines: Transparenz in Echtzeit. Denn dadurch können Sie das Verteilungsproblem lösen. Und genau das kann eine digitale Bestandsplattform leisten.

Welche Vorteile wären damit konkret verbunden?

Transparenz in Echtzeit ist ein sehr konkreter Vorteil. Ich würde sogar sagen: in Krisenzeiten der ganz entscheidende. Die zentrale Frage ist doch: „Wie erreichen wir das?“ Ganz einfach: durch einheitliche Standards in der elektronischen Kommunikation. Diese Standards gibt es schon längst, und zwar weltweit. Wir müssen sie nur konsequent nutzen.

Als offenen Schnittstellenstandard nutzen wir EPCglobal. EPCglobal ist ein Joint Venture zwischen GS1 und GS1 US. Es ist eine Organisation, die gegründet wurde, um die weltweite Einführung und Standardisierung der Technologie für elektronische Produktcodes zu erreichen. Jeder Konsument kennt die Barcodes aus dem Supermarkt, wo sie an der Kasse gescannt werden. Diese Codes beruhen auf demselben Standard. Er ermöglicht es beispielsweise auch, die Plattform europaweit zu skalieren.

Wichtig sind auch frei wählbare Abfragekriterien. Bei der Art des Medizinprodukts muss beispielsweise nach einem Katalogsystem wie eCl@ss recherchiert werden können. Durch die Verwendung dieser Standards können wir eine individuelle Identifikation des Objekts und der Lokation vornehmen. Sie haben dadurch eine absolute Transparenz in der Lieferkette. Welches Produkt ist wann wo?

Und Sie können dadurch Abhängigkeiten transparent machen.
Gespeist wird die Bestandsdatenbank über die klassifizierten und standardisierten Bestandsmeldungen von Herstellern, Händlern , Logistik-Dienstleistern, Krankenhäusern und den vorhandenen Krisenlagern beispielsweise bei der Bundeswehr oder dem THW.

Die Bestände können im Katastrophenfall oder bei einer Pandemie dann Behörden, Krankenhäuser oder weitere Akteure abfragen. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) spielt unserer Meinung nach hier eine Schlüsselrolle. Es könnte auch der Betreiber der Plattform sein.

Eine Abfrage kann dann beispielsweise lauten: Zeige mir Bestände zu einer bestimmten Art eines Medizinprodukts in Süddeutschland an.

In welchen Bereichen des Medizinprodukte-Spektrums ist eine digitale Bestandsplattform aus Ihrer Sicht besonders wichtig und effektiv?

Zum einen: Es geht nicht nur um Medizinprodukte. Es geht auch um versorgungskritische Arzneimittel, die in einer solchen digitalen Bestandsplattform abgebildet werden können. Zum anderen: Welche Produkte einbezogen werden sollen, muss eine gemeinschaftliche Festlegung sein. Krisen können ja sehr unterschiedlich sein: Derzeit reden wir viel über eine Pandemie, aber natürlich müssen wir auch auf Katastrophenfälle vorbereitet sein.

Diese Festlegung sollte – koordiniert von der Bundesregierung – gemeinschaftlich von Einrichtungen, Ärzten, Herstellern und anderen Beteiligten vorgenommen werden. In unserem Bereich sprechen wir dann von Produkten der intensivmedizinischen Versorgung, aber auch von Zubehörprodukten wie Spritzen, Kanülen und Infusionsbesteck.

Welche Verbände und Institutionen unterstützen diesen Vorschlag?

Auch mit dem Industrieverband Spectaris haben wir natürlich sehr früh über dieses Thema gesprochen und dort auch die volle Unterstützung für unser Konzept erhalten. Aufseiten der Arzneimittelbranche ist vor allem der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) involviert, der dem Konzept auch zugestimmt hat.

Weitere Unterstützer sind die Einkaufsgemeinschaften, insbesondere Prospitalia und Sana , die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und der Spitzenverband Fachärzte Deutschlands (SpiFa).

Wir haben auch konstruktive Gespräche mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und dem Bundesverband Deutscher Privatkliniken (BDPK) geführt. Zudem haben der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Verband der Chemischen Industrie (VCI) unser Konzept in ihre Positionspapiere zu den Lehren aus Corona aufgenommen.

Welche Rolle spielen in einem Gesamtkonzept der medizintechnische Fachhandel bzw. die Industrie mit Blick auf logistische Aufgaben wie Import, Lagerung und Verteilung?

Der Fach- und Großhandel spielt natürlich eine sehr große Rolle. Über die beschriebenen Standards ist eine Anbindung aber technisch sauber realisierbar, um das Ziel einer Transparenz in Echtzeit auch zu erreichen.
Nun hat der BVMed im Dezember 2021 einen Fachbereich für medizintechnischen Fach- und Großhandel gegründet.

Da liegt es ja nahe, dessen Expertise in die entsprechenden Gedankenspiele einfließen zu lassen.

Ja, natürlich. Der neue Fachbereich vereint Fach- und Großhändler mit herstellerübergreifendem, hauptsächlich medizintechnischem Sortiment. Unsere Ziele sind ein besserer Austausch untereinander und eine klare politische Positionierung zu handelsrelevanten Themen. Außerdem wollen wir das Bewusstsein für die Rolle des Fach- und Großhandels im öffentlichen Diskurs stärken.

Der Fach- und Großhandel für Medizinprodukte spielt eine gewichtige Rolle in der Gesundheitsversorgung. Er trägt mit seinen Leistungen zur Versorgungssicherheit in der ambulanten wie stationären Versorgung bei. Die große Bedeutung eines gut funktionierenden Fach- und Großhandels hat die Corona-Pandemie verdeutlicht. Ohne die richtigen Produkte am richtigen Ort gibt es keine Versorgungssicherheit und damit beispielsweise auch keine erfolgreiche Impfkampagne.

Diese Rolle und die besonderen Leistungen des Fach- und Großhandels herauszustellen, ist eine der zentralen Zielsetzungen des neuen BVMed-Gremiums. Das wichtige Thema „Versorgungssicherheit“ steht ja auch bei der neuen Bundesregierung auf der politischen Agenda. Beim im Koalitionsvertrag vorgesehenen „Gesundheitssicherstellungsgesetz“ müssen medizintechnische Hersteller, Händler und Leistungserbringer mit ihrer Expertise eingebunden werden.https://www.bvmed.de/

Die Bundesregierung hat mittlerweile die Nationale Reserve Gesundheitsschutz (NRGS) ins Rollen gebracht. Im Kern geht es in eine ähnliche Richtung, sprich, eine Versorgungskrise u. a. mit Persönlicher Schutzausrüstung (PSA) und Medizinprodukten im Krisenfall zu verhindern. Inwieweit tangiert die NRGS die Gedankenspiele des BVMed? Wo liegen mögliche Synergien?

Beide Konzepte ergänzen sich. Sie sind beide ein Teil der Lösung, zwei Seiten einer Medaille. Die NRGS kommt von der Lagerhaltung. Das ist sinnvoll für Produkte, die wir in Deutschland bzw. Europa nicht herstellen, sowie für erforderliche Rohstoffe, die wir nicht haben. Das betrifft vor allem Produkte, bei denen wir eine große Abhängigkeit von einzelnen Produktionsstätten beispielsweise in Südostasien oder China haben.

Aber nicht alles muss eingelagert werden. Im Gegenteil. Diese Lagerlösung müssen wir ergänzen durch die digitale Bestandserfassung bestehender Produktions- und Lagerkapazitäten. Das muss wie zwei Zahnräder ineinander greifen, um auf künftige Krisen besser vorbereitet zu sein.

Ihr Verband hat im Sommer 2021 in der Unterarbeitsgruppe NRGS das Konzept einer „Digitalen Bestandsplattform versorgungskritischer Medizinprodukte“ vorgelegt. Wie war die Resonanz? Die Bundesregierung äußerte sich auf Nachfrage ja eher zurückhaltend. Die Gespräche würden fortgesetzt, eine abschließende Bewertung stehe noch aus.

Ja, da sind Sie sehr gut informiert – und das ist nach wie vor der Stand der Dinge. Wir hatten erstmals im August 2020 mit der Bundesregierung über das Konzept einer digitalen Bestandsplattform gesprochen und unsere Vorstellungen und Lösungsansätze näher skizziert. Danach haben wir die bereits beschriebene Verbändeallianz aufgebaut.

Im August 2021 folgte dann das sehr hochrangig besetzte Nachfolgegespräch. Da waren Vertreter des Gesundheits-, Wirtschafts- und Innenministeriums dabei, aber auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, die Bundeswehr und das THW. Es war ein sehr gutes und konstruktives Gespräch. Auf der Arbeitsebene sind wir gut vorangekommen.

Gab es inzwischen weitere solcher Treffen? Wenn ja, wie schätzen Sie die Chancen ein, dass dieses Konzept auch in die weiteren Planungen der Regierung zur NRGS mit einfließen könnte?

Fachlich ist alles besprochen. Jetzt ist es eine politische Entscheidung. Aber wir hatten Wahlkampf, Koalitionsverhandlungen, Regierungsbildung und neues Personal. Das braucht nun seine Zeit.

Wir sind zuversichtlich, dass wir mit unseren Argumenten für eine sinnvolle Ergänzung des NRGS-Konzepts um eine digitale Bestandsplattform versorgungskritischer Medizinprodukte und Arzneimittel die neuen politischen Entscheidungsträger überzeugen können. Ich werde weiter persönlich für dieses Konzept kämpfen und stehe jederzeit gerne zur Diskussion zur Verfügung – und noch lieber zur Umsetzung.

Oder will der BVMed zusammen mit seinen Partnern notfalls in Eigenregie handeln?

Nein, das macht keinen Sinn. Ein solches Projekt geht nur im Konsens. Wir sehen hier als idealen Betreiber das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Da macht ein Vorpreschen von Verbandsseite wirklich keinen Sinn.

Auch im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition spiegelt sich dieses Thema wider. Nun soll die Problematik einer besseren Versorgung u. a. mit Medizinprodukten und deren effiziente und dezentrale Bevorratung mit einem Gesundheitssicherstellungsgesetz gelöst werden.

Das hört man beim BVMed doch sicher gerne …

Ja, absolut. Das ist ein guter Ansatzpunkt, der unsere volle Zustimmung hat. Diesen Part des Koalitionsvertrages haben wir auch am gleichen Tag ausdrücklich gelobt. Wir müssen die richtigen Lehren aus Corona ziehen. Die digitale Bestandsplattform passt zu diesem im Koalitionsvertrag skizzierten Projekt ganz wunderbar. Es ist eine smarte Lösung und sinnvolle Ergänzung. Nochmals: Sie bietet der Politik das, was sie in Krisenzeiten benötigt: Transparenz in Echtzeit!

Worauf kommt es aus Sicht des BVMed bei der Ausgestaltung eines solchen Gesetzes an?

Die politischen Entscheider dürfen nicht den Fehler aus der Anfangszeit wiederholen, als beispielsweise protektionistische Exportverbote verhängt wurden, ohne die betroffene Industrie einzubinden. Mittlerweile hat, glaube ich, jeder begriffen, dass wir bei Medizinprodukten über einen Bereich sprechen, der für die medizinische Versorgung der Menschen unentbehrlich ist, der aber auch von sehr komplexen Lieferketten und Produktionsnetzwerken geprägt ist.

Was ich damit sagen will: Wir müssen die Expertise der Hersteller, der Händler, der Logistiker bei solchen gesetzgeberischen Vorhaben unbedingt stärker und auch sehr früh einbinden. Dazu stehen wir als BVMed bereit: konstruktiv, kompetent, lösungsorientiert.

Die industrielle Gesundheitswirtschaft ist in Deutschland ein enorm wichtiger Wirtschaftszweig. Wir stehen für rund 85 Milliarden Euro Wertschöpfung, ein Exportvolumen von 120 Milliarden Euro und über eine Million Arbeitsplätze. Die Medizinprodukte-Industrie ist ein bedeutender Teil der Gesundheitswirtschaft. Die MedTech-Branche beschäftigt in Deutschland über 235.000 Menschen, ist stark mittelständisch geprägt und investiert neun Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung.

Eine solche Branche, die in der Pandemie ihre Bedeutung gezeigt und Leben gerettet hat, muss von der Politik besser beachtet und frühzeitiger eingebunden werden.

Welche weiteren Schritte plant der Verband konkret, um das Projekt zeitnah und mit Erfolg umsetzen zu können?

Wir sehen vor allem sechs Entwicklungsschritte zur digitalen Bestandsplattform, die nach dem politischen „Go“ angegangen werden müssten.

  • Die konkrete Definition kritischer Arznei- und Medizinprodukte.
  • Die Ermittlung von Produkten und Rohmaterialien mit fehlender EU-Produktionskapazität.
  • Die Nutzung eines einheitlichen global eingeführten Produktidentifikationsstandards und Klassifikationsstandards.
  • Die Festlegung der Teilnehmer an der Bestandsplattform und deren Zugänge.
  • Das Aufsetzen eines Pilotprojektes.
  • Eine Strategie zur Vermeidung von außereuropäischen Abhängigkeiten.

Zu einem regionalen Piloten gab es bereits gute Gespräche mit beispielsweise Hessen und Rheinland-Pfalz. Aus unserer Sicht wäre es nun klug, wenn es – organisiert durch das BBK – einen Workshop mit allen Beteiligten geben würde, um die genannten Punkte konkret anzugehen.

Um welche Produkte geht es? Welche Partner müssen ins Boot geholt werden? Wer macht was wann? Da müssen wir konkret werden und die Schritte exakt definieren. Unser Vorschlag dazu liegt auf dem Tisch. Jetzt liegt der Ball im Spielfeld der Politik.

Herr Dr. Lugan, danke für das Gespräch.

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Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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