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21. März 2018
Redaktion

Brexit bringt gravierende Folgen für die Medizintechnik

(02/2018)  Der Normalbürger kann nicht einschätzen, welche tiefliegenden und differenzierten Probleme der Brexit beinhaltet. Auch für die Medizinprodukte-Branche auf beiden Seiten des Ärmelkanals sind schmerzhafte Einschnitte zu erwarten – vor allem aber für die britischen Firmen.
Bürger,
Foto: nito/Fotolia
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Welche Folgen der Brexit hat, verdeutlichte Rechtsanwältin Carolin Kemmner, Mitglied der Healthcare & Life Sciences Industry Group der Düsseldorfer Kanzlei Clifford Chance. Ein Report der Außenhandelsorganisation Germany Trade & Invest (GTAI) verdeutlicht zudem in Zahlen, wie stark die Medizintechnik betroffen ist.

Harter oder weicher Brexit ist entscheidend

Das Wesen der Europäischen Union besteht u. a. in einem gemeinsamen Markt, der Warenverkehrsfreiheit und in einheit­lichen Standards/harmonisierten Normen. Diese Gemeinsamkeiten kündigten die Briten durch ihr Referendum im Juni 2016 auf. Voraussichtlich wirksam wird der Austritt im März 2019. In der Folge wird es im Vereinigten Königreich umfangreiche Rechtsänderungen geben. Auch das Verhältnis zu Drittstaaten müssen die Briten auf eine neue Basis stellen.
Potenziell möglich sind ein weicher oder auch ein harter Brexit. Ein weicher Brexit würde den Briten einen großzügigeren Marktzugang nach Europa und auch in umgekehrter Richtung erlauben. Beispiele für solche assoziierte Länder sind Norwegen (EFTA) und in abgeschwächter Form die Schweiz. Hinsichtlich der Medizinprodukte adaptierte die Schweiz bekanntlich das europäische Medizinprodukterecht. Solche Modelle schloss Carolin Kemmner bei ihrem Vortrag aber ebenso aus wie eine reine Zollunion, wie z. B. mit der Türkei. Sie prognostizierte eine Paketlösung aus einem oder mehreren Handelsverträgen.
Hinsichtlich der Medizinprodukte wur­de in der EU mittels der RiL 93/42/EWG und der 90/385/EWG das Recht in den Mitgliedsstaaten harmonisiert und in nati­onale Vorschriften umgesetzt. Die neue EU-Verordnung (MDR) harmonisiert noch stärker und verbindlicher.
Die damit verbundenen Regelungen entfallen für das Vereinigte Königreich nach dem Austritt aus der EU. Dazu ge­hört z. B., dass die Benannten Stellen in Großbritannien und ihre Zertifikate, wie z. B. Konformitätsbestätigungen, in der EU nicht mehr gelten (und umgekehrt). Nach Kemmner sind vor allem für die Übergangszeit Regelungen zur Fortgeltung und wechselseitigen Anerkennung von Zertifikaten und zu technischen Standards dringend erforderlich. Auch die Überwachung der britischen Benann­ten Stellen müsste im Austrittsvertrag dringend geregelt werden.

Carolin Kemmner verdeutlichte die vielfältigen Aspekte des Brexits

Im direkten Geschäft müssen britische Medizinprodukte-Firmen nach dem Austritt gemäß EU-Medizinprodukte-Verord­nung in der EU einen Bevollmächtigten benennen, wenn sie nach Europa exportieren wollen. Und bezüglich der klinischen Studien im Rahmen der Produktzulassung muss auch der Sponsor oder ein Vertreter seinen Sitz in der EU haben. Es stellt sich die Frage, welche Anforderungen nach dem Austritt für die Durchführung klinischer Studien im Vereinigten Königreich gelten.
Hinsichtlich der Transaktionen und deren wirtschaftlichen Auswirkungen empfahl Kemmner den Firmen, bei der Vertragsgestaltung auch Wechselkurs-Verschiebungen, die Einfuhr neuer Zölle und die Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit zu berücksichtigen. Kündigungsrechte oder Vertragsanpassungsklauseln sollten Bestandteil von Verträgen sein.
Berücksichtigt werden müssen selbst Änderungen bei Werbemaßnahmen und den Schutzrechten. So verlangt das Heilmittelwerbegesetz einen Inlandsvertreter für nicht in der EU ansässige Unterneh­men. Und der Fortbestand von nati­onal nicht registrierten IP-Rechten (Paten­te, Marken, Urheberrecht, Know-how/Geschäftsgeheimnisse usw.) wird von der Ausgestaltung des nationalen Rechts abhängen. „Bei bestehenden EU-weiten Rechten bleibt abzuwarten, ob ein Bestandsschutz anerkannt bzw. vereinbart wird“, meinte Kemmner und sprach auch entsprechende Fragestellungen hinsichtlich des Datenschutzes und des Datenaustauschs an. Auf die bislang üppig geflossenen EU-Forschungsgelder müsse das Vereinigte Königreich auf jeden Fall verzichten.
Als Fazit zog Carolin Kemmner, dass ein harter Brexit weitreichende Folgen durch doppelte Regulierungen und erhöhte Kos­ten für die Medizintechnik- Unternehmen bringen würde. Vieles hän­ge davon ab, inwieweit Großbritannien bisheriges und künftiges EU-Recht als nationales Recht adaptiere, der Gedanke der wechselseitigen Anerkennung regulatorischer Standards akzeptiert werde und weiterhin eine Kooperation zwischen den Be­hörden stattfinde. Sofern der britische Markt für ein europäisches Unternehmen sehr wichtig ist, sei eine frühzeitige Planung auf Basis eines harten Brexits unabdingbar.

Milliardengeschäft Medizintechnik

Interessant sind auch die Ausführungen der Außenhandelsorganisation Germany Trade & Invest (GTAI) zum Brexit. Die GTAI geht davon aus, dass durch den Brexit neue bürokratische Einfuhrbarrieren und Zölle drohen. Zudem verteuere das seit dem EU-Referendum schwächer gewordene Pfund die britischen Importe. Deutsche Produkte machten derzeit rund 16 Prozent der britischen Medizintechnik-Einfuhren aus. Die BMI Research-Fitch Group geht von einem Marktvolumen von 9,2 Mrd. Euro aus (September 2017: 1 Pfund = 1,14 Euro). GTAI prognos­tiziert nur ein geringes Marktwachstum für die nächsten Jahre.
Die Ausgaben im Jahr 2016 für Medizintechnik nach Produktgruppen in Euro (Basis Durchschnittswert 2016: 1 Pfund = 1,22 Euro): Verbrauchsmaterial 2,17 Mrd., diagnostische Bildgebung 1,66 Mrd., zahnmedizinische Produkte 0,62 Mrd., Orthopädie/Prothesen 1,13 Mrd., medizinische Hilfsmittel 1,48 Mrd., Sonstiges 2,44 Mrd. Euro.
Die in Großbritannien ansässigen Hersteller produzierten 2016 Medizintechnik und Verbrauchsmaterialien im Wert von 4,1 Mrd. Euro. Davon entfielen auf Verbrauchsmaterialien 0,92 Mrd. Euro, auf diagnostische Bildgebung 0,82 Mrd., auf zahnmedizinische Produkte 0,37 Mrd., auf Orthopädie/Prothesen 0,6 Mrd., auf medizinische Hilfsmittel 0,17 Mrd., auf Therapiegeräte 0,1 Mrd. und auf Sonstige 1,12 Mrd. Euro.
Wichtige Hersteller sind Smith & Nephew (Umsatz 2016: 262 Mio. Euro), Smiths Medical (Anästhesie, Beatmung, Umsatz 2016: 1,17 Mrd. Euro), Johnson & Johnson (u. a. Blutzuckermess­geräte, Um­satz 774 Mio. Euro), Elekta (Strahlentherapie, Umsatz 511 Mio. Euro), B. Braun Medical (Umsatz 313 Mio. Euro), Siemens (bildgebende Verfahren), Olympus Keymed (Endoskope), Advanced Medical Solu­tions (Wundbehandlung), Swann Morton (Skalpelle), Talley Group (Anti­de­kubitus-Matratzen) und Becton Dickinson (Einmalartikel). Für letztere Unternehmen werden keine britischen Umsatzzahlen für 2016 angegeben.
Die Einfuhren von Medizinprodukten beliefen sich laut Eurostat im Jahre 2016 auf knapp 6,4 Mrd. Euro, was fast 70 Prozent des Bedarfs ausmachte. Seit 2016 gehen die Einfuhren – von wenigen Produktsegmenten abgesehen – relativ stark zurück. Die Einfuhren aus Deutschland sanken 2016 um 10,4 Prozent und im 1. Halbjahr 2017 nochmals um 6,2 Prozent. Insgesamt steuerte Deutschland im 1. Halbjahr 2017 16,2 Prozent der importierten Medizinprodukte bei.
Die Einfuhren einiger Produktgruppen im Jahr 2016: Elektrodiagnoseapparate und -geräte 456 Mio. Euro, davon aus Deutschland 139 Mio. Euro; Röntgenapparate 542 Mio., D: 149 Mio.; Sterilisierapparate 16 Mio., D: 4 Mio.; Rollstühle 82 Mio., D: 22 Mio.; zahnmedizinische Instrumente 115 Mio., D: 52 Mio.; Spritzen, Nadeln, Katheter, Kanülen 916 Mio., D: 224 Mio.; ophthalmologische Instrumente 150 Mio., D: 13 Mio.; andere Instru­mente, Apparate und Geräte 1,65 Mrd., D: 206 Mio.; Therapiegeräte, Atmungsgeräte 458 Mio., D: 26 Mio.; Medizinmöbel 118 Mio., D: 20 Mio. und Orthopädietechnik/Prothesen Einfuhr 1,86 Mrd. Euro, davon aus Deutschland 194 Mio. Euro.

Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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