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22. Juni 2021
Redaktion
Medizinprodukte / MDR im Versorgungsalltag

Neue Strategien bei Herstellern und Händlern nötig

Caroline Meyer, Head of operations, ceyoo gmbh

Seit 26. Mai 2021 gilt die Verordnung EU 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte (MDR). Mit der MDR sind viele neue und geänderte Regelungen in Kraft getreten, die Hersteller und weitere Wirtschaftsakteure in der Lieferkette (Importeure,
Händler und Bevollmächtigte) nun einhalten müssen.
Foto: Gerd Altmann/Pixabay

Hersteller, die mit ihren Produkten bereits unter den Geltungsbereich der Medizinprodukterichtlinie (MDD, 93/42/ EWG) oder auch der bisherigen Richtlinie über aktive Implantate (AIMDD, 90/385/EWG) fielen, fallen auch unter den Geltungsbereich der MDR.

Die MDR definiert des Weiteren auch eine neue Gruppe von Klasse-I-Produkten (Im, Is, Ir), bei denen nun eine Benannte Stelle in den Prozess der Konformitäts­bewertung eingebunden werden muss. Ebenso sollten Hersteller ein besonderes Augenmerk auf die Produkte ihres Portfolios legen, die keinen medizinischen Verwendungszweck haben, aber trotzdem durch die MDR reguliert werden (MDR, Anhang XVI).

Der Anwendungsbereich der MDR hat sich hier gegenüber der MDD erweitert.

Status quo der MDR-Umsetzung

Wenn Sie sich an den Übergangsbestimmungen in Artikel 120 orientierten, konnten Sie vermutlich noch rechtzeitig ein EG-Zertifikat mit einer möglichst langen Geltungsdauer, maximal bis zum 26. Mai 2024, erwirken, um Ihre Produkte theoretisch bis zum Gültigkeitsende des Zertifikats in Verkehr bringen zu dürfen.

Dies gilt aber nur für Produkte, an denen keine wesentlichen Änderungen am Design oder der Zweckbestimmung nach Erstellung des EG-Zertifikats mehr vorgenommen werden. Aber welche Anforderungen der MDR müssen Sie als Hersteller bereits ab dem Stichtag erfüllen?

Aktiv anzuwenden sind die Überwachung nach dem Inver­kehrbringen (Art. 83–86), die Vigilanz (Art. 87–92) sowie die Registrierung von Wirtschaftsakteuren (Art. 31) – auch des PRRC/Person Responsible for Regulatory Affairs (Art. 15) – und von Produkten (Art. 29). Für Ihr QM-System bedeuten diese Anforderungen die Integration eines geeigneten PMS (Post-Market Surveillance)-Prozesses und die Verankerung der PRRC, der für die Einhaltung der Regulierungsvorschriften verantwortlichen Person, als Rolle im Unternehmen.

Mittels dieses PMS-Prozesses sind Sie in der Lage und ab dem Geltungsbeginn auch verpflichtet, proaktive und reaktive Marktbeobachtung durchzuführen. Jedes nach dem Stichtag in Verkehr gebrachte Produkt muss von einem PMS-Plan abgedeckt sein.

Foto: privat
Caroline Meyer, CEyoo GmbH.

MDR-ready: Was jetzt für Sie zählt

Die Grundvoraussetzung ab dem Geltungsbeginn ist bei Ihnen gelegt, nun streben Sie die Produktzertifizierung Ihrer Medizinprodukte unter der MDR an. Im Gegensatz zur MDD findet unter der MDR die Prüfung der technischen Doku­mentation neuerdings vorgelagert zum Audit statt.

Und um diese Aktenprüfung zu bestehen, muss die technische Dokumentation nicht nur gemäß Anhang II und III erstellt sein, sondern auch „in klarer, organisierter, leicht durchsuchbarer und eindeutiger Form“ dargestellt werden. Wenn Sie bereits über diese Anforderungen hinaus aktiv waren und einen Plan zum Übergang Ihres gesamten Produktportfolios ausgearbeitet haben, sind Sie gut vorbereitet.

Die Umstellung auf die MDR bietet die seltene Gelegenheit, grundsätzliche strategische Entscheidungen in Bezug auf das QM-System und alle Belange rund um die technische Dokumentation Ihrer Produkte sowie zum Produktportfolio selbst zu treffen. Sie können die Übergangszeit bis zum Ablauf ihres MDD-Zertifikats sinnvoll nutzen und mittels der zwingend notwendigen Investition zur Erlangung der MDR-Konformität den Plan zur Umsetzung mit Ihrer Unternehmensstrategie verknüpfen.

Sollte Sie dieser Plan aufgrund der Größe und Komplexität Ihres Produktportfolios oder aufgrund mangelnder Ressourcen vor eine Herausforderung stellen, nutzen Sie folgenden Leitfaden als Hilfestellung:

  • Bewertung Ihrer Medizinprodukte (Reklassifizierung, GAP-Analyse etc.)
  • Auswahl der Benannten Stelle
  • Einreichung einer oder mehrerer Musterakte/n der technischen Doku­mentation
  • QMS-Audit durch die Benannte Stelle
  • Verleihung des QMS-Zertifikats
  • für alle Produkte: Erstellung der vollständigen technischen Dokumentation anhand der Musterakte
  • für alle Produkte: Konformitätserklärung

Konzentrieren Sie sich vor allem auf die Bewertung Ihrer Medizinprodukte. Überprüfen Sie zuerst die Risikoklasse nach den MDR-Regeln (Anhang VIII) sowie die Zweckbestimmung und reorganisieren Sie bei Bedarf Ihre Produktgruppen zusammen mit Ihren Clinical-Affairs-Experten, um das Sampling, den Aufwand der klinischen Bewertung und die Post-Market Surveillance überschaubar zu halten.

Priorität nach Umsatz?

Priorisierung der Produktgruppen – aber wie? Ein möglicher Ansatz ist die Priorisierung anhand bisheriger Verkaufszahlen. Wenn Sie Ihre Fokusprodukte klar identifizieren können und die technische Dokumentation vorrangig bearbeiten, können Sie frühzeitig Ihre geplanten Umsätze für Ihre bestehende Produktpalette sichern. So können auch die weniger vom Markt gefragten Medizinprodukte („Ladenhüter“) identifiziert und ein Phase-out eingeleitet werden. Es handelt sich dabei jedoch um eine retrospektive Ausrichtung, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Entwicklung des Marktes berücksichtigt.

Vigilanz gibt die Richtung vor

Alternativ können Sie sich fragen, bei welchen Medizinprodukten Ihres Portfolios es wahrscheinlich werden könnte, dass Vigilanzergebnisse eine wesentliche Änderung erfordern. Durch die umfangreichere Marktbeobachtung ist es nicht unwahrscheinlich, dass Sie neue und bisher nicht bekannte Informationen über Ihr Produkt erhalten, die zu Änderungsbedarf in Teilen der technischen Dokumentation führen können, z. B. bei der Usability, dem Risikomanagement, der IFU (Instructions for Use) und damit auch der klinischen Bewertung oder vielleicht sogar der Zweckbestimmung. Wenn Sie anhand dieser Fragestellung einen risikobasierten Ansatz wählen, können Sie die technische Dokumentation kritischer Produkte frühzeitig auf MDR-Niveau heben und bei Bedarf notwendige Änderungen schneller einarbeiten. So vermeiden Sie aufwendige Interventionen in Ihrem Projekt und können ressourcenschonender alle anschließenden Produkte nach Plan bearbeiten. Bedenken Sie dabei, dass diese beiden Ansätze nicht nur den CE-Markt betreffen, sondern abhängig von Verkaufszahlen und auftretenden Vorkommnissen auf dem Weltmarkt sind.

Innovationen treiben Sie an?

„Der wichtigste Markt ist der, in dem die Produkte am schnellsten verkauft werden.“ Wenn Ihre Entwicklungsabteilung gerade mit Hochdruck an der nächsten Produktgeneration oder innovativen Neuentwicklung arbeitet und Ihr Fokus auf dem Inverkehrbringen neuer Produkte und dem Erhalt der Innovationsfähigkeit liegt, dann sollten Sie auch für die Überarbeitung nach MDR einen strategischen Ansatz zur Inverkehrbringung neuer Produkte wählen. Binden Sie die neu entwickelten Produkte wenn möglich in bestehende Produktgruppen ein und priorisieren Sie für diese Produkte die Erstellung der technischen Dokumentation nach MDR. So können Sie jetzt schon darüber nachdenken, in welchen Ländern Sie ebenfalls Registrierungen erwirken wollen, für die Sie das CE-Zeichen als Voraussetzung zur Zulassung benötigen.

MDR vs. international

Ein letztes nicht zu unterschätzendes Kriterium für die Priorisierung von Produkten sind die Abhängigkeiten bei internationalen Zulassungen. Manche Zulassungen (z. B. im US-Markt) sind vollkommen unabhängig von der Zulassung in Europa. Manche Länder erlauben auch „Fast Tracks“ auf Basis der Zulassung in hochregulierten Märkten außerhalb der EU. Eine ganze Reihe von Ländern (z. B. in Nordafrika) bauen jedoch direkt oder indirekt auf der EU-Produktzertifizierung auf. Das bedeutet entweder die Forderung nach einem EG-Zertifikat als Teil der Einreichung oder einem sog. Freihandelszertifikat (auch „Ausfuhrbescheinigung“ oder „Free Sales Certificate“). Das Freihandelszertifikat wird von Ihrer zuständigen Behörde auf Basis einer Konformitätserklärung und, falls anwendbar, eines EG-Zertifikats ausgestellt. Achten Sie hier auch auf die Abhängigkeiten durch Nennung von Artikelnummern. Es ist noch nicht klar, wie die zuletzt genannten Märkte auf die MDR-Umstellung reagieren werden, denn oft gibt es keine konkreten Anforderungen an das Melden von Änderungen bei der Zulassung in der EU. Aber es ist anzunehmen, dass eine ganze Reihe Länder eine Neu-Registrierung einfordern werden. Stimmen Sie sich deshalb unbedingt mit Ihren internationalen Kontakten, Zweigstellen und Vertriebspartnern über den aktuellen Status ab, denn hier können einige zusätzliche zeitintensive Aufgaben auf Sie zukommen.

MDR als Chance für effizientere Prozesse und Digitalisierung

Sie haben den für Sie strategisch besten Ansatz identifiziert und in einem Plan verabschiedet. Jetzt ist es Zeit für die Erstellung einer Musterakte, die Sie zur Prüfung bei Ihrer Benannten Stelle vorlegen können. Es ist nicht nur eine Musterakte: Mit ihr bietet sich die seltene Gelegenheit, mit veralteten, in der Durchführung teils aufwendigen Abläufen und Fehlern aufzuräumen. Durch die Erstellung einer neuen TD-Struktur bieten sich Optimierungsmöglichkeiten sowohl an ihren QM-Prozessen als auch an der Grundlagendokumentation der Produkte, z. B. den Spezifikationen. Insbesondere die Digitalisierung vereinfacht eine neue Ordnung und Fehlerfreiheit, aber auch die Eindeutigkeit der Informationen in der Dokumentation. Mit zentralisierten softwaregestützten RA-Prozessen gestalten Sie Ihre technische Dokumentation langfristig übersichtlicher und machen sie leichter zugänglich für verschiedene Interessengruppen innerhalb Ihres Unternehmens. Die Digitalisierung Ihrer Prozesse ermöglicht Ihnen ein Datenmodell mit „single point of truth“, d. h., eine einmalig eingetragene Information wie bspw. die Zweckbestimmung wird automatisch in allen Dokumenten verlinkt, Fehler werden vermieden. Eindeutigkeit und Transparenz in der Dokumenten-Versionierung und insbesondere bei unterschiedlichen Produktindexen für verschiedene Länder vereinfachen Ihre Zertifizierungs- und Rezertifizierungsprozesse und können sie beschleunigen. Software-Lösungen ermöglichen zusätzlich die automatische Abfrage länderspezifischer Anforderungen und entlasten damit die Ressourcen der Regulatory-Affairs-Abteilung.

Musterakte zurück – Jetzt geht’s los!

Nach erfolgreichem Audit halten Sie bereits die EU-Bescheinigung für Ihr Musterprodukt in Händen und haben damit guten Grund zur Annahme, dass Ihre TD-Struktur und deren Inhalte den MDR-Anforderungen entsprechen und als Vorlage für weitere technische Dokumentationen dienen können. Entsprechend Ihrer Unternehmensstrategie starten Sie jetzt den Rollout auf weitere Produkte.

Fazit

Je nach Datenlage der bisherigen technischen Dokumentation kann es ein sehr kosten- und zeitintensiver Übergang von der MDD zur MDR sein. Doch die Investition kann Ihnen neben der einfachen Instandhaltung der Produkte auf dem aktuellen Entwicklungs- und Dokumentationsniveau auch die Möglichkeit geben, zukünftige Herausforderungen bereits jetzt anzugehen. Nutzen Sie Synergien in der Umsetzung, um Ihre Produktinnovationen, die Optimierung Ihrer Qualitätsmanagement-Prozesse und insbesondere auch die Digitalisierung in Ihrem Unternehmen voranzutreiben.

Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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