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12. August 2024
Redaktion
Life Bridge Ukraine

Hilfe zur Selbsthilfe

Die Hilfsorganisation „Life Bridge Ukraine“ bringt amputationsverletzte Soldaten aus der Ukraine nach Berlin. Mit ihnen kommen auch sechs Trainees nach Deutschland. Insgesamt sechs Orthopädietechnik-Meister­betriebe bringen diesen bis Sommer in einem beschleunigten Programm bei, wie man maßan­gefertigte Prothesen für die Soldaten herstellt. Einer der beteiligten Orthopädietechnikmeister ist Gernot Kretschmer vom Sanitätshaus pro-samed. Mit ihm hat sich die MTD-Redaktion über das Projekt unterhalten.
Foto: Michael Günther
Gernot Kretschmer (3. v. li.) und Janine von Wolfersdorff (4. v. li.) mit den wichtigsten Unterstützern des Projekts.

Die Zahl von Amputationsverletzten in der Ukraine wird laut Senatskanzlei Berlin auf 30.000 bis 50.000 geschätzt. Gleichzeitig gibt es zu wenige Orthopädietechniker in der Ukraine, um alle Kriegsopfer schnell und gut zu versorgen.

Diesen Versorgungsnotstand will Dr. Janine von Wolfersdorff beheben. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin der Non-Profit-Organisation Life Bridge Ukraine, die das Städtepartnerschafts-Projekt „Prothesenzentrum Berlin-Kyiv“ ins Leben gerufen hat. Zahlreiche Partner unterstützen das Projekt, für das rund eine halbe Million Euro an privaten Spendengeldern gesammelt wurde. An Bord sind auch sechs Berliner Meisterbetriebe für Orthopädietechnik.

Projektpartner der ersten Stunde

Das Sanitätshaus pro-samed mit Orthopädietechnikmeister Gernot Kretschmer ist Projektpartner der ersten Stunde. Von Kretschmer stammt die Idee Auszubildende und Patienten gemeinsam zu den Spezialisten nach Berlin zu holen: „Das ist deutlich effektiver als anders herum, denn so lernen die Auszubildenden unter realen Arbeitsbedingungen in den Handwerksbetrieben“, erklärt er.

Kretschmer ist bereits im März nach Kiew gefahren, um gemeinsam mit zwei weiteren beteiligten OT-Meistern Kriegsversehrte auszuwählen, die für das Projekt in Frage kommen. Ziel dieser Reise war, vor Ort zu lernen, wie das Land funktioniert und wer die Projektpartner unterstützen kann. „Aber es ging auch darum, Vertrauen mit den unermüdlich arbeitenden Krankenhausärzten aufzubauen“, stellt Kretschmer fest.

Insgesamt sollen ca. 60 amputationsverletzte Soldaten in Berlin versorgt werden; die ersten zwölf sind im April in Berlin angekommen. „Es mussten Soldaten sein, bei denen eine Musterversorgung möglich ist“, erklärt Kretschmer. Denn mit den Kriegsversehrten sind auch sechs ukrainische Trainees angereist. Kretschmer: „Und denen können wir in der Kürze der Zeit nicht das gesamte Spektrum der Beinprothetik beibringen, auch nicht die vielfältigen Bauweisen von Unterschenkelprothesen. Denn dafür sind eine optimale duale Berufsausbildung, viele Zusatzqualifikationen, eine lang­jährige Spezialisierung und/oder die Meisterausbildung erforderlich.“

Foto: Life Bridge Ukraine
Foto: Life Bridge Ukraine
Lidiia bei der Fertigung ihres ersten Testschafts aus thermoplastischem Kunststoff im Vakuum-Tiefziehverfahren.
Foto: Life Bridge Ukraine
Und bei der Testauslieferung der bilateralen Prothesenversorgung.

Suche nach Trainees war schwierig

Diese Trainees zu finden, sei schwierig gewesen. Zunächst habe man an Orthopädietechniker in Ausbildung gedacht. Kretschmer: „Aber die sind zur Zeit nicht verfügbar.“

Auch die Suche nach Kandidaten mit einem Abschluss in medizinischer oder technischer Hinsicht, wie Physiotherapeuten oder Medizinisch-Technische Assistenten waren nicht zu finden. „Die Gehälter in diesen Berufen sind besser vergütet als für den Orthopädietechniker. Sonstige Handwerker oder Industrietechniker sind ebenfalls finanziell bessergestellt oder verfügen in der Regel nicht über die erforderlichen englischen Sprachkenntnisse,“ erklärt Kretschmer.

Englisch sei wichtig, denn die Auszubildenden müssten auch Sprachmittler zwischen den deutschen Orthopädietechnikern und den ukrainischen Kriegsversehrten sein. Rekrutiert wurden zudem vorrangig Frauen, weil ihre zukünftige Tätigkeit im geplanten Kiewer Prothesenzentrum nicht von einer Einberufung in die Streitkräfte bedroht sei.

Lidiia, 30 Jahre, Krankenschwester

Auch die orthopädietechnische Werkstatt des Sanitätshauses pro-samed hat seit April eine neue ukrainische Kollegin: Lidiia. Sie ist 30 Jahre alt, von Beruf Krankenschwester „und handwerklich geschickt,“ stellt Kretschmer fest; ein wichtiger Faktor, denn auf Lidiia und die anderen Trainees wartet ein strenges Ausbildungs- und Schulungsprogramm, das auf nur drei Monate konzipiert ist, denn schon in wenigen Wochen kommt die nächste Gruppe von versehrten Soldaten, die versorgt werden müssen.

Was Orthopädietechnik-Gesellen und -Meister in vielen Jahren lernen, könne den Trainees natürlich nicht in drei Monaten vermittelt werden. „Da geht es um Körperachsen sowie den ganzen Skelett- und Muskelapparat. Dazu kommt, dass die amputierten Gliedmaße bzw. die Stümpfe alle unterschiedlich sind“, erklärt Kretschmer. Zudem verändern sich Stümpfe mit der Zeit, was Anpassungen erforderlich macht.

Kretschmers OT-Team habe die Ukrainerin mit offenen Armen empfangen und nehme sie zu jedem Versorgungsfall dazu. Lidiia ist laut Kretschmer „unglaublich motiviert“ und habe bereits innerhalb der ersten sechs Wochen aktiv an der Versorgung von vier Unterschenkelprothesen teilgenommen. Er ist überzeugt, dass sie auch nach ihrer Rückkehr in die Ukraine am Thema dran bleiben wird, „auch wenn sie vielleicht mal nicht weiter weiß.“

Er zeigt sich aber auch realistisch: „Für die Qualifikation zum Prothesentechniker fehlt den Trainees mindestens ein Jahr an Grundlagen zu Anatomie, Physiologie, Material- sowie Fertigungstechnik und mehr.“ Könnte sich Kretschmer etwas wünschen, dann, dass Lidiia eines Tages eine Fachschule für Orthopädie und Prothetik besucht. „Die ersten handwerk­lichen Grundlagen hat sie ja nun. Das ist ein wichtiges Rüstzeug,“ so Kretschmer.

Foto: Life Bridge Ukraine
OT-Meister Gernot Kretschmer (li.) und Janine von Wolfersdorff im Gespräch mit den Ärzten des Zentralen Militär Krankenhauses in Kiew.

Neues Prothesenzentrum in Kiew

Doch die Ausbildung der Trainees ist nur ein Teilprojekt. Das eigentliche Ziel ist, im Herbst eine kommunale Prothesenwerkstatt in Kiew zu eröffnen, in dem die Trainees sich dann um die Versorgung von Soldaten und Zivilisten vor Ort kümmern. „Die Realisierung der umfangreichen Strukturen für solch ein beispielloses Projekt wurde durch enorme Fleißarbeit und Ausdauer, v. a. in der Zusammenarbeit mit den Behörden, durch Frau von Wolfersdorff gestemmt“, führt Kretschmer aus. „Eine Mammutaufgabe! Aber sie macht das mit einer unglaub­lichen Energie und Professionalität.“

Auch die Stadtverwaltung Kiew ist beteiligt. Sie hat alle baulichen Maßnahmen übernommen und unterstützt die fristgerechte Fertigstellung mit umfassender Logistik. Die Werkstatteinrichtung für das Zentrum ist laut Kretschmer „sehr speziell, wird aus Deutschland geliefert und ist vollständig aus Spenden finanziert.“

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Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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