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2. Juni 2020
Redaktion
EU-MDR und TSVG / Hilfsmittelverträge

Hilfsmittelversorgung befindet sich im Umbruch

Mit der EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR) und den Hilfsmittel-Verträgen nach dem Terminservice- und Versorgungs­gesetz (TSVG) standen zwei aktuelle Themenkomplexe auf der Tagesordnung eines Hilfsmittel-Seminars, das der MTD-Verlag im Rahmen der Winterseminare in Hannover, Köln und Stuttgart anbot. Referentin war Rechtsanwältin Bettina Hertkorn-Ketterer aus Bonn. Teil I der MTD-Berichterstattung in der April-Ausgabe befasste sich mit den neuen Anforderungen, die sich aus der MDR für die Leistungserbringer in der Hilfsmittelversorgung ergeben. Teil II in dieser Ausgabe informiert über das Vertragsgeschehen mit den Krankenkassen und gibt Praxistipps für die Umsetzung.
Foto: privat
Bettina Hertkorn-Ketterer entfachte ein Feuerwerk an wichtigen Informationen für Hilfs­mittel-Leistungs­erbringer.

HHVG vielfach ignoriert

Um die Regelungen des Terminservice- und Versorgungsgesetzes zu erfassen, bedarf es eines Rückblicks auf das Heil- und Hilfsmittel-Versorgungsgesetz (HHVG). Dieses beinhaltete die Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses, die Präqua­lifi­zierung durch einen von der Deutschen Akkreditierungsstelle akkreditierten Zertifizierer, Prüfungen von Leistungserbringern, die Dokumentation und Transparentmachung von Aufzahlungen mit an­schließender Veröffentlichung eines Berichts seitens des GKV-Spitzenverbandes.

Hinsichtlich der Präqualifizierung wies Bettina Hertkorn-Ketterer darauf hin, dass die Präqualifizierung nicht erlischt, wenn die PQ-Stelle ihren Dienst einstellt, wohl aber, wenn es wesentliche Änderungen beim Leistungserbringer gibt. Vor­geschrieben sind Betriebsbegehungen durch die PQ-Stelle nicht nur bei der erstmaligen Präqualifizierung, sondern in regel­mäßigen Abständen im Rahmen der Überwachung. Hinsichtlich der Beratung sieht das HHVG grundsätzlich eine aufzahlungsfreie Versorgung mit Versorgungsalternativen vor. Wenn eine Aufzahlung anfallen sollte, müssen die Beratung und der Aufzahlungsbetrag dokumentiert werden.

Nicht vorgesehen ist hingegen, dass der Betrieb auch die näheren Umstände der Beratung oder den Grund für die Aufzahlung festhält. Bezüglich des ersten, am 3. Juli 2019 veröffentlichten Berichts des GKV-Spitzenverbandes über die Aufzahlungen hatte Hertkorn-Ketterer erhebliche Zweifel hinsichtlich der Vollständigkeit und Richtigkeit. „Im Bericht sind Ungereimtheiten vorhanden“, meinte sie.

Hinsichtlich der im SGB V verankerten Rahmenempfehlungen zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Durchführung und Abrechnung der Versorgung mit Hilfsmitteln zog Hertkorn-Ketterer eine ernüchternde Bilanz. Es seien in keinem Punkt wesentliche Vereinfachungen oder Vereinheitlichungen erreicht worden und der GKV-Spitzenverband habe wegen der unterschiedlichen Interessenlagen der Krankenkassen blockiert. Alles in allem sei ein beschämendes Ergebnis festzustellen.

Das TSVG als Korrigendum

Weil es bei der Umsetzung des HHVG zu Gesetzesverstößen kam, korrigierte der Gesetzgeber mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG). Wesentlicher Punkt ist das Ausschreibungsverbot für Hilfsmittel. Darüber hinaus interessant ist die Einführung einer elektronischen Patientenakte bis spätestens 2021. Hinsichtlich des Ausschreibungsverbots gibt es Bedenken bei der europäischen Kommission. Doch die Bundesregierung plant, am Verbot festzuhalten.

In der letzten Konsequenz müsste sich der EU-Gerichts­hof mit der Frage auseinandersetzen. „Ich gehe allerdings davon aus, dass das Ausschreibungsverbot bestehen bleibt“, mein­te Hertkorn-Ketterer. Die Ausschreibungsverträge liefen Ende November 2019 aus. Hinsichtlich der kon­kreten Abwicklung der Verträge gab es zuletzt Unsicherheiten.

Nach einem Schrei­ben des Bundesamtes für Soziale Sicherung BAS (früher BVA) laufen Fallpauschalen-Verträge, bei denen die Leis­tungserbringer die Vergütungen schon erhielten, bis zum Auslaufen der vertraglichen Vereinbarung. Unabhängig von der Versorgungsberechtigung bleibt eine ärzt­liche Dauerverordnung weiter gültig.

Wenn nun die Versorgungsberechtigung eines Leistungserbringers erlischt, dann muss sich der Versicherte mit seiner Dauerverordnung einen neuen, berechtigten Leistungserbringer suchen.

Das alte Preisniveau kommt nicht wieder

Interessant sind die von der Referentin präsentierten Zahlen zu den Ausschreibungen: Seit 2007 gab es 222 Ausschreibungen mit 1.519 Losen. Von den insgesamt 4.000 Marktteilnehmern konnten sich 655 ein oder mehrere Ausschreibungslose sichern. Festzustellen ist aber eine Konzentration auf wenige Unternehmen. Nur 63 Betriebe (9,6 %) haben 1.215 Lose (80 %) gewonnen.

In der Summe kam Hertkorn-Ketterer zu dem Schluss, dass 2 Prozent der im Markt agierenden Unternehmen den Ausschreibungsmarkt dominiert haben. Fakt ist, dass es aufgrund der Ausschreibungen zu massiven Preissenkungen von 50 und mehr Prozent gekommen ist. „Das liegt aber nicht an zuvor überhöhten Preisen, vielmehr basierten diese Niedrigpreise auf strategischen Entscheidungen und nicht auf betriebswirtschaftlichen Kalkulationen“, begründete die Branchen-Expertin den Preisverfall.

Weiter habe es drastische Einschnitte bei der Produkt- und Servicequalität gegeben, und letztendlich habe der Versicherte die Zeche bezahlt. Dass sich an der schlechteren Versorgungslage zumindest in einigen Produktbereichen und bei eini­gen Kassen nichts ändern kann, verdeutlichte Hertkorn-Ketterer mit einem Vergleich der ehemaligen Ausschreibungspreise mit aktuellen Preisen für Inkontinenz-Hilfsmittel.

Ein Lichtblick seien die Arbeitsgemeinschaften der Leistungserbringer, um Kassen-Diktaten etwas entgegenzusetzen. Die Hoffnungen der Branche, dass sich die Preise wieder auf das Niveau vor den Ausschreibungen hinbewegen könnten, hätten sich bislang als nicht berechtigt erwiesen. Problematisch sei außerdem, dass das BAS in Bezug auf das jetzt neu zu vereinbarende Vertragspreisniveau auf den Grundsatz der Beitragsstabilität verweise. Hier müsste klar auf die Preise vor Ausschreibungen rekurriert werden.

Manche Kassen pokern noch immer rechtswidrig

Dass einige Kassen fragwürdig agieren, liegt für die Juristin auf der Hand. Da würden z. B. Verhandlungen sehr schnell als gescheitert erklärt, wenn die Preise nicht genehm seien. Und die DAK habe schon mal Stoma-Patienten aufgefordert, sich die Ware selbst zu kaufen und dann Kos­tenerstattung zu beantragen. „Das ist nicht gesetzeskonform im Rahmen des Sachleis­tungsprinzips“, stellte sie fest. Solches Fehlverhalten sei bis zu den Politikern durchgedrungen, die auch nach dem TSVG mit der Situation unzufrieden seien.

Ein Resultat ist der Vorstoß der Fraktionen von Union und SPD im Rahmen des Medizinprodukte-EU-Anpassungsgesetzes (MPEUAnpG). Die eingebrachten Forderungen: Beendigung rechtswidriger Verträge durch die Kassenaufsicht, Verpflichtung für die Kassen, Verhandlungen aufzunehmen, EU-weite Bekanntmachun­gen von Vertragsabsichten und Schiedsverfahren. (Anmerkung der Red.: Der Deutsche Bundestag hat am 5. März das MPEUAnpG beschlossen. Der ursprüngliche Passus, dass nur noch Verbands- und Organisationsverträgen und nicht mehr Verträgen mit einzelnen Unternehmen beigetreten werden kann, wurde gestrichen.)

Nicht diskutabel ist nach den Vorgaben des TSVG, dass Krankenkassen verhandeln müssen, wobei es in der Praxis viele offene Fragen und nicht zu akzeptierende Vorgehensweisen von Kassen gibt. Probleme bereite beispielsweise, wie das Verhandlungsrecht bei Beitritten umgesetzt wird. Und – kommen Kassen ihrer Verpflichtung nach, ein abgelehntes Vertragsangebot zu begründen? Einen Trend machte Hertkorn-Ketterer indes aus: „Aufgrund der schon sichtbaren Entwicklung ist in Zukunft verstärkt mit Verhandlungen zu rechnen, die online und digital abgewickelt werden.“

Gegenwehr seitens der Leistungserbringer

Den Sanitätshäusern empfahl die Praktikerin, die selbst aktiv in Vertragsverhandlungen unterschiedlicher Leistungsgemeinschaften eingebunden war und ist, folgende Maßnahmen:

  • Anforderung bestehender Verträge mit Zusagen, dass sie tatsächlich exis­tieren und vollständig sind
  • Anfordern des Namens des Leistungserbringers, der den Beitrittsvertrag unterschrieben hat
  • Aktives Einfordern von Verhandlungen und Protokollierung derselben
  • Schriftliches Einfordern von Begründungen bei Ablehnung von Angeboten
  • Kassen-Aktivitäten am Willkürverbot, Diskriminierungsverbot, Gleichbehandlungsgrundsatz und Transparenz­gebot messen
  • Schlechte Verträge mit nicht auskömm­lichen Bedingungen nicht unterschrei­ben
  • Abwägen, ob ein eigener Vertrag oder ein Vertragsbeitritt besser ist
  • Bei einem Beitritt Hinweis auf nach eigener Einschätzung rechtswidrige Klauseln
  • Dokumentation des Entstehungsprozesses

Einige interessante Aspekte zum Beitritt: Bezüglich des Beitritts dürfen Kassen

keine Beitrittsformulare vorgeben. Und schadenersatzpflichtig machen sich diejenigen Krankenkassen, die einen Beitritt ohne Grund verzögern. Auch darf ein Leis­tungserbringer jedem abgeschlossenen Vertrag beitreten – auch einem Apothekenvertrag. Bettina Hertkorn-Ketterer identifizierte zwei Trends im Rahmen der Verhand­lungen: erstens, dass Kassen nur Pseudo-Gespräche anbieten oder gewisse Vertragsbestandteile als nicht verhandelbar erklären; zweitens, dass Kassen ihre Marktmacht bündeln, wie es z. B. bei der Arge VdEK oder auch bei einigen AOKs festzustellen ist.

Darauf könnten die Leistungserbringer mit einer klaren Haltung reagieren. Im Zweifel sollten Gespräche im Einzelfall auch einmal abgebrochen und stattdessen zu einem späteren Zeitpunkt ein Beitritt zum Vertrag erklärt werden. Zu prüfen sei auch, ob einzelne, nicht akzeptable Klauseln z. B. unangemessene Benachteiligungen durch Hinweis auf die Regelungen zu den Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu unterbinden sind. Und wenn sich die Kassen zu Arges zusammentun, warum nicht von Leistungserbringer-Seite ein adäquates Pendant gegenüberstellen?

Sanitätshaus und E-Rezept

Abschließend erläuterte Bettina Hertkorn-Ketterer die wesentlichen Inhalte aktueller Gesetzesvorhaben mit Schwerpunkt Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG). Wesentliche Inhalte, über die MTDialog bereits berichtete, sind die Etablierung elektronischer Netzwerke, digitale Tagebücher z. B. für Diabetiker, Anspruch auf Eintragung der Daten in die elektronische Patientenakte, Videosprech­stunden, Übertragung der elektronischen Patientenakte bei Kassenwechsel, Einführung digitaler Gesundheitsanwendungen (Apps) und E-Rezepte auch für Hilfsmittel.

Aus Sicht der Hilfsmittel-Leistungserbringer ist positiv zu bewerten, dass nach den Vorgaben des aktuell im Entwurf vorliegenden Patienten-Datenschutz-Gesetzes (PDSG) zunächst ausschließlich die elektronische Verordnung für verschreibungspflichtige Arzneimittel zur Umsetzung kommen soll. Eine Benachteiligung der sonstigen Leistungserbringer, die erst zu einem späteren Zeitpunkt an die Telematik-Infrastruktur angebunden werden, soll so ausgeschlossen werden. Es bleibt abzuwarten, ob die bisher im Gesetzesentwurf angedachten Maßnahmen tat­sächlich geeignet sind, um eine Wettbewerbsverzerrung in diesem Sinne auszuschließen.

Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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