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28. Juli 2022
Redaktion
Medical Device Regulation (MDR)

Brüssel unter Druck

Knapp ein Jahr nach Geltungsbeginn der Medical Device Regulation (MDR) ist Zeit für eine kritische Nabelschau. Im Rahmen eines hybriden MDR-Symposiums der Cluster-Initiative MedicalMountains zusammen mit der Med Alliance BW wartete Ortwin Schulte vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Frühjahr mit interessanten Fakten und Informationen aus der europolitischen Schaltzentrale Brüssel auf. Fazit: Die Probleme sind bekannt, mögliche Schalthebel erkannt. Doch der branchenpolitische Druck muss noch weiter steigen – vor allem auch mit Blick auf die von vielen geforderte Verlängerung der Übergangsfristen.
Foto: Jai79/Pixabay
Foto: Jai79/Pixabay

Die MDR ist nach wie vor nicht praxistauglich.“ Auf diesen kurzen Nenner brachte Julia Steckeler, Geschäftsführerin der Cluster-Initiative MedicalMountains, in ihrem Eingangsstatement die Befindlichkeit der deutschen Medizinprodukte-Branche. Die Hersteller stehen aus ihrer Sicht gleich mehreren Problemen gegenüber: zu wenig Benannte Stellen, keine Antworten auf Anfragen bei Benannten Stellen und Nichtmachbarkeit von klinischen Studien aus ethischen Gründen.

Medtech-Branche fordert Kurskorrekturen
Negative Auswirkungen habe dies sowohl auf bewährte Bestandsprodukte als auch innovative Produkte. Hersteller würden ihr Produkt-Portfolio bereinigen bzw. Produkte ganz vom Markt nehmen. Dies wiederum bekämen auch die Kliniken zu spüren.

Ihr Fazit: „Die Zeit rennt davon.“ Das „MDR-Symposium“ wollte sie zugleich als Zeichen des Dialogs verstanden wissen – denn im Kern gehe es für alle um lösungsorientierte Ergebnisse. „Wir wollen, gerade aus Tuttlinger Sicht, weiterhin gute und sichere Medizinprodukte in Deutschland und Europa.“

MDR & IVDR: Vielfältige Aktivitäten in Brüssel
Ortwin Schulte, Leiter des Referats Medizinproduktesicherheit im Bundesgesundheitsministerium, gab zunächst eine knappe Gesamtschau der vielfältigen Aktivitäten in Brüssel im Dunstkreis der MDR.

Er verwies u. a. auf die im Juni gestartete Implementierung der Bewertung von Gesundheitstechnologien gem. HTA (Health Technology Assessment) EU-Verordnung, die eine „vorsichtige Einbringung von MDR und IVDR“ mit sich bringe. Das Ganze sei aber nicht zu unterschätzen, da nun inhaltliche Leitlinien gesetzt würden. Zudem gebe es einige Mitgliedsstaaten –allerdings nicht Deutschland – die eine generell stärkere Einbindung von Medizinprodukten in HTA wollen. Auch beim erweiterten Mandat der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA (European Medicines Agency) mit Blick auf eine künftig effizientere Engpassbekämpfung gebe es diverse EU-Länder, die eine stärkere Zuordnung der Medizinprodukte zur EMA befürworteten.

Schulte machte deutlich, dass für die EU-Kommission das Thema MDR nur eines von vielen Themen sei. Wichtig sei in diesem Zusammenhang auch die neue Zuordnung von Kommissionsseite des Bereichs MDR/IVDR zur Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit „GD Sante“ statt zur Generaldirektion Binnenmarkt „GD Markt“.

Mit Blick auf den Rat der EU mahnte er an, dass bei 27 Mitgliedsstaaten „unterschiedliche Grundinteressen“ gerade auch beim Thema MDR bestehen. Das Europäische Parlament schließlich sei aktuell schlichtweg „unglücklich über den Implementierungsstand bei MDR und IVDR“.

Sein Rat: Die mit dem Thema MDR stark befassten Länder wie Deutschland müssten ihre entsprechenden Interessen weiterhin offensiv in Brüssel vertreten. Es gelte, Kooperationen zu schmieden, beispielsweise mit Spanien und Polen: „Nur so lässt sich die Rangordnung des Themas Medizinprodukte mit Blick auf die EU-Kommission erhöhen.“

MDCG: Status quo Implementierungslage
Interessant waren die Daten und Fakten, die Schulte mit Blick auf eine Mitte Dezember 2021 durchgeführte Konferenz zwischen der Medical Device Coordination Group (MDCG) und Benannten Stellen (Notified Bodies) präsentierte. Deutlich wurde damals, dass generell zu wenig Anträge gestellt werden (4.000 bei MDR). Nötig wäre die Erledigung von 7.000 Anträgen p. a., um bis Mai 2024 die Rezertifizierung abzuschließen.

Hinzu kommen laut Schulte sehr viele nicht zertifizierungsfähige Anträge, dabei hapere es oft an fehlenden klinischen Daten. Zudem sei die gesamte Verfahrensdauer erheblich länger als gedacht – 700 Tage bei MDR. Das binde Kapazitäten entsprechend länger. Hinzu kämen weitere Probleme wie zu wenige Anträge von KMU-Seite und insbesondere für Produkte niedriger Risikoklassen. Zu schwach sei das Antragsaufkommen zudem für Produkte nach Anhang XVI MDR (nicht medizinische Zweckbestimmung). Um hier gegenzusteuern würden Interessenverbände u. a. hybride Audits und Leitlinien zur Dauer von Zertifizierungsverfahren fordern.

Implementierungslücken – EU-Kommission zögert noch
Schulte machte unmissverständlich klar, dass die EU-Kommission aktuell wenig Bereitschaft signalisiere, analog zur IVDR nun auch bei der MDR eine weitere Anpassung der Übergangsfristen vorzunehmen. Im Europäischen Rat fehle hierfür auch die nötige qualifizierte Mehrheit, und auch im Europäischen Parlament zeichne sich derzeit für einen solchen Schritt keine Mehrheit ab.

Grundsätzlich aber sei in Brüssel die Diskussion zum Thema im Gange. Sein Fazit: „Die EU-Kommission wird die Vorschlagskompetenz von Anträgen und Signalen aus dem Europäischen Parlament abhängig machen.“

Auf fachlicher Ebene – MDCG/fachlicher Ausschuss – sei man hingegen schon tätig. Er verwies auf die Taskforce MDR/orphan devices (Nischenprodukte), die entsprechende Vorschläge entwickeln soll. Die Beratungen dazu seien aber noch nicht abgeschlossen.

Notausgang Art. 59 oder 97 MDR?
Parallel dazu gebe es noch die Möglichkeit, das Thema Implementierungslücken auf nationaler Ebene zu regeln; entweder über eine Sonderzulassung gem. Art. 59 MDR oder über die Feststellung einer „Sonstigen Nichtkonformität“ gem. Art. 97 MDR. Letztere Variante ziele darauf ab, dass ein Medizinprodukt mit Altzulassung noch für eine bestimmte Zeit geduldet wird.

Daraus lasse sich aber mit Sicherheit keine dauerhafte Duldung ableiten. Folglich müsse in diesem Fall perspektivisch ein zeitlicher Bezug aufgezeigt werden. Dies sei dann aber eine Verwaltungsaufgabe der Länder. Gleichwohl räumte er ein, dass sich aus § 97 „keine automatisierte Zeitfolge“ ableiten lasse.

Schulte verwies abschließend darauf, dass die Anwendung der Art. 59 und 97 innerhalb der EU stark und kontrovers diskutiert werde. Im Kern seien diese Optionen aber auf die nationale Ebene beschränkt. Vor allem mit Blick auf Drittmärkte seien Probleme absehbar.

DIHK-Umfrage: Die Alarmglocken schrillen immer lauter
Zu ernüchternden Ergebnissen kommt eine gemeinsame Befragung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) mit der Cluster-Initiative MedicalMountains und dem Industrieverband Spectaris zu den Auswirkungen der seit 26. Mai 2021 geltenden EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation – MDR). Zentrale Ergebnisse der Umfrage:

Zahlreiche Bestandsprodukte werden vom Markt genommen – und zwar in allen der 21 abgefragten Anwendungsgebieten.

In 16 Anwendungsgebieten bzw. Produktgruppen streicht mindestens die Hälfte der darin tätigen Unternehmen einzelne Produkte, ganze Produktlinien oder gar komplette Sortimente, wie zum Beispiel in der Orthopädie oder bei den klassischen chirurgischen Instrumenten.
Bei fast jedem zweiten Betrieb (46 %) liegen Innovationsprojekte aufgrund der MDR auf Eis.
Ein Fünftel der Unternehmen (19 %) weicht bei der Erstzulassung ihrer medizintechnischen Innovationen aufgrund der MDR auf andere Märkte, wie etwa die USA oder Asien aus.
Erhebliche Hindernisse bei der Zusammenarbeit mit den „Benannten Stellen“. Die Firmen verzeichnen nicht nur deutliche Kostensteigerungen von durchschnittlich 100 Prozent bei der Einbindung einer Benannten Stelle, sondern auch eine deutliche Verlängerung der Bewertungsverfahren (zeitlich mehr als verdoppelt).
In der Folge verzögert sich die Bereitstellung der Produkte massiv.
Insbesondere den kleinen Unter­nehmen bereiten die hohen Zertifizierungskosten große Schwierigkeiten.

Bestand- und Nischenprodukte in Gefahr
„Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass die MDR für die Hersteller von Medizinprodukten an vielen Stellen nicht praxistauglich ist“, sagt Martin Leonhard, Vorsitzender der Medizintechnik bei Spectaris. „Stehen aber bestimmte Nischenprodukte für die medizinische Versorgung nicht mehr zur Verfügung, könnte das zu einem vermehrten Einsatz von Produkten führen, die für diesen Zweck nicht zugelassen sind. Ganz abgesehen von einer schwierigen Versorgungslage, denen bestimmte Patientengruppen, wie etwa Kinder ausgesetzt sind“, konstatiert Leonhard.

Achim Dercks, stellv. DIHK-Hauptgeschäftsführer betont: „Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie entscheidend eine leistungsfähige Gesundheitswirtschaft nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht ist. Die Politik muss daher den Erhalt der Wettbewerbs- und Innovationskraft der Medizintechnik-Branche stärker in den Blick nehmen – das hat positive Effekte auf die Gesundheitsversorgung in der EU.“

Julia Steckeler, Geschäftsführerin der MedicalMountains GmbH macht ebenfalls auf die prekäre Gesamtlage aufmerksam: „Zum Zeitpunkt der Befragung waren EU-weit noch immer weniger als die Hälfte der ursprünglich geplanten 59 Benannten Stellen (aktuell sind es 28) für die Zertifizierung der Produkte unter neuem Recht benannt. Dies führt zu substanziellen Engpässen bei der notwendigen Erneuerung der Produktzertifikate unter der MDR und erfordert schnelle, aber auch nachhaltige Lösungen, die das System dauerhaft funktionsfähig machen.“

MDR-Anpassungensbedarf: Forderungen liegen auf dem Tisch
Aus Sicht der Industrie besteht dringender Anpassungsbedarf der MDR durch den Gesetzgeber. DIHK, MedicalMountains und Spectaris sprechen sich mit Blick auf die Umfrageergebnisse für umfassende Handlungsempfehlungen aus:

Alle Alt-Zertifikate, die zum Stichtag 26. Mai 2024 nachweislich nicht in die MDR überführt werden können, sollten unbürokratisch verlängert werden, um so die Verfügbarkeit dieser Produkte weiter zu gewährleisten.
Die Politik soll zudem pragmatische Lösungen schaffen, die eine verlässliche Implementierung der MDR ermöglichen. Hierzu zählen neben dem Ausbau der Benannten Stellen auch die bestmögliche Nutzung ihrer Ressourcen.
Sonderregelungen für Nischenprodukte und pragmatischere Bewertungsansätze für bewährte Bestandsprodukte – vor allem auch mit Blick auf die geforderten klinischen Daten. Die entsprechenden Studien seien wegen ethischer Bedenken oder aufgrund fehlender Prüfärzte oft gar nicht durchführbar.

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Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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