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28. September 2021
Redaktion
EU-MDR

Auch die Ärzte schlagen jetzt Alarm

Die EU-MDR wirkt sich auf klinische Innovationen und Nischenprodukte aus – und zwar negativ. Dies belegt die Cluster-Initiative MedicalMountains unter Berufung auf mehrere Testimonials aus der Ärzteschaft. Tenor: Es ist fünf nach zwölf.
Foto: Kana Design Image/Fotolia

Nach coronabedingter insgesamt vierjähriger Übergangsfrist ist die EU-MDR seit dem 26. Mai 2021 verbindlich anzuwenden. Unter diesem Regelwerk ist es aufwändiger, länger und mindestens doppelt so teuer geworden, neue Medizinprodukte bis in die Vermarktung zu bringen. Darauf verweist die Cluster-Initiative MedicalMountains mit Sitz in Tuttlingen.

Hersteller müssten u. a. mehr Daten erheben und dokumentieren, Nachweise liefern und – je nach Risikoklasse und Innovationsgrad – klinische Studien veranlassen. „Patientenschutz steht immer und unbestreitbar an oberster Stelle“, betont Julia Steckeler, gemeinsam mit Yvonne Glienke Geschäftsführerin von MedicalMountains. Wenn aber der Patientenschutz zulasten einer fortschrittlichen Patienten- und Versorgungssicherheit gehe, dann stimme etwas nicht im System.

In diesem Zusammenhang verweist MedicalMountains mahnend auf jüngste Entwicklungen, die im medizinischen Versorgungsalltag zu beobachten seien. Konkret geht es um erfolgversprechende Produkte und Verfahren, die auf der Strecke bleiben.

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Prof. Dr. Wolfram Lamadé, Chefarzt für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Helios Klinikum Pforzheim, hat eine Idee: Bei Operationen an der Bauspeicheldrüse könnte ein Gewebekleber eine sichere Barriere zum umliegenden Gewebe bilden. Nach ersten erfolgreichen Tests hat der beteiligte Industrie-Partner einen Rückzieher gemacht. Das wirtschaftliche Risiko ist zu groß.
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Prof. Dr. med. Brigitte Stiller ist Ärztliche Direktorin an der Klinik für Angeborene Herzfehler und Pädiatrische Kardiologie des Universitäts-Herzzentrums Freiburg-Bad Krozingen. Sie teilt die Sorge, dass innovative Medizinprodukte nicht mehr den Weg in den OP finden bzw. bewährte Bestandsprodukte nicht mehr verfügbar sein werden.

Enttäuschte Mediziner

Beispiel 1: Zitiert wird u. a. Prof. Dr. med. Brigitte Stiller, Ärztliche Direktorin an der Klinik für Angeborene Herzfehler und Pädiatrische Kardiologie des Universitäts-Herzzentrums Freiburg-Bad Krozingen. Sie verweist auf einen innovativen Baby-Stent, eine mitwachsende Gefäßstütze, die man gemeinsam mit einem mittelständischen Medizintechnik-Unternehmen entwickelt habe. Zwar seien bereits multizentrische Studien zugelassen worden, doch die weiteren Kosten würden für das Unternehmen in keinem Verhältnis mehr zum möglichen Erlös stehen. „Ein Baby-Stent ist kein Massenprodukt, sondern für eine Handvoll Eingriffe pro Jahr“, erinnert Stiller. Die weitere Entwicklung ruhe.

Beispiel 2: Operationen an der Bauspeicheldrüse zählen zur Hochrisiko-Chirurgie. Als State of the Art gilt, den Fluss in den Magen oder Dünndarm umzuleiten. Ein kompliziertes und gleichsam nicht ungefährliches Unterfangen. Prof. Dr. Wolfram Lamadé, Chefarzt für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Helios-Klinikum Pforzheim hatte eine Idee: Ein Gewebekleber könnte an der Schnittstelle eine sichere Barriere zum umliegenden Gewebe bilden. Der Eingriff wäre einfacher für die Chirurgen, vor allem aber sicherer für die Patienten. Nach ersten erfolgreichen Tests hat der beteiligte Industrie-Partner einen Rückzieher gemacht. Das wirtschaftliche Risiko sei zu groß. Selbst für einen Konzern mit Milliardenumsatz pro Jahr. Lamadé schüttelt den Kopf. „Keiner getraut sich mehr, in die Zulassung zu gehen.“

Beispiel 3: Prof. Dr. Oliver Muensterer, Leiter der Kinderchirurgischen Klinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital München, hebt hervor, dass man bis vor kurzem von einem Hersteller „ein ganzes Arsenal an verschieden großen Instrumenten für die Kinderchirurgie“ zur Verfügung hatte. Auf einen Schlag sei nur noch ein Standardmaß erhältlich gewesen. Der Trend gehe hin zu Produkten, die sowohl im pädiatrischen als auch in adulten Bereich einsetzbar seien. Ein halber Millimeter erscheine zunächst nicht viel, „aber es macht einen großen Unterschied, ob ein Baby mit einem 3,5 oder 3,0 Millimeter breiten Instrument operiert wird.“ Ähnlich verhalte es sich mit Klammernahtgeräten. In den USA wurde ein solches mit einem Durchmesser von fünf Millimetern speziell für Kinder auf den Markt gebracht – die Entwicklung eines ähnlichen Produkts in Europa eingestellt. Die Rechnung gehe für den Hersteller einfach nicht auf. Neuentwicklungen, gerade im Bereich der Kinderchirurgie, werden erheblich erschwert. „Ich sehe uns schon operieren wie unsere Vor-Vorgänger. Das ist quasi ein Zurück in die Steinzeit“, beklagt Muensterer.

Beispiel 4: Bei speziellen Bestandsprodukten können die Kosten für die erneute Zulassung in die Hunderttausende gehen, rechnet Univ.-Prof. Dr. Nikolaus Haas vor, Direktor der Kinderkardiologie und Pädiatrische Intensivmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der derzeitige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK). „Firmen in den USA müssen dies nicht, da gilt der Grundsatz: einmal zugelassen, immer zugelassen.“ Dies bedeute eine „drastische Ungleichbehandlung“ und Marktverzerrung. Eine Konsequenz: Sind Produkte aus ehemals deutscher beziehungsweise europäischer Produktion vom Markt genommen, werden sie durch amerikanische ersetzt. „Die kosten dann mal locker das Zehnfache“, so Nikolaus Haas.

Eine weitere: In Ermangelung bewährter Produkte entwickelt sich nicht nur die Kinderchirurgie rückwärts, wieder hin zu „alten“, risikoreicheren Methoden, bestätigt er die Einschätzung von Muensterer. Beispielsweise gab es in der Kinderkardiologie einen besonderen Ballonkatheter, der weltweit seit Jahrzehnten benutzt wurde, um Neugeborene mit einem speziellen Herzfehler das Leben zu retten und eine Operation möglich zu machen. „Diesen Katheter gibt es nun nicht mehr, da er sich für die US-Firma nicht rentiert.“ Die Folge: Zahlreiche Babys seien gestorben, da es kein vergleichbar gutes Produkt auf dem Markt gebe. „Es ist fünf nach zwölf“, sagt Nikolaus Haas. „Gelinde gesagt eine Katastrophe.“

Lösungsansätze gesucht

Julia Steckeler von MedicalMountains führt aus, dass es bereits pragmatische Lösungsansätze gibt. So existieren in den USA die sogenannte „Grandfather Clauses“ und „Preamendment Devices“ – in einem Markt, der Sicherheit durchaus großschreibt. Vereinfacht gesagt gelten für Produkte, die vor der Einführung neuer Vorschriften in Verkehr gebracht worden sind, auch weiterhin die alten Regeln. „Ein solches System ließe sich auch auf Bestandsprodukte unter EU-MDR übertragen“, schlägt Steckeler vor, sofern es keine Mängel oder gravierende Änderungen am Produkt selbst gebe.

Ebenfalls nach dem Vorbild FDA könnten „Orphan Devices“ das Problem der Spartenprodukte lösen: eigene Vorgaben für Medizinprodukte, die in geringer Stückzahl und für sehr spezielle Anwendungen hergestellt werden. Denkbar wäre, in solchen Fällen über die Anwendung CE-gekennzeichneter Instrumente die nach EU-MDR erforderlichen klinischen Daten sukzessive zu sammeln. Ansonsten müssten klinische Studien veranlasst werden. „Dieser Posten schlägt bei Nischenprodukten ins Kontor und übersteigt das Budget. Ein schon fast klassisches K.O.-Kriterium, besonders für kleine und mittelständische Unternehmen.“

„Ändert sich nichts, werden Neuentwicklungen entweder überhaupt nicht mehr weiterverfolgt beziehungsweise zuerst oder sogar ausschließlich in außereuropäischen Märkten zugelassen“, fasst Julia Steckeler zusammen.

Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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