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30. Mai 2022
Redaktion
Interview mit VVHC

Status Quo zur enteralen Ernährung

(06/2022) Wenn es um die Qualität in der Versorgung von Patientinnen und Patienten geht, ist der VVHC an vorderster Front. Im Gespräch mit der MTD-Redaktion resümiert Geschäftsführer Norbert Bertram aktuelle Themen wie den neu geschaffenen Versorgungsbereich VB 03F15 und die damit verbundene Präqualifizierung, aber auch ethische Aspekte und jüngste Entwicklungen in Sachen Vertragsverhandlungen.
Foto: BVMed/Abbott GmbH & Co. KG

Herr Bertram, bei der Verbandsgründung im Jahr 2013 war die enterale Ernährung Kerngebiet des VVHC, der sich damals noch „Verband für Versorgungsqualität Enterale Ernährung“ (LEV-EE) nannte. Wie hat sich dieser Fachbereich seither entwickelt?
Norbert Bertram: Bei der Verbandsgründung haben sich sieben Unternehmen zum LEV zusammengeschlossen, um als Leistungserbringergemeinschaft zusammen zu wirken. Inzwischen haben sich über 90 Unternehmen dem VVHC angeschlossen. Das hat zur Konsequenz, dass auch im Fachbereich enterale Ernährung noch mehr Fachwissen und Expertise vorhanden ist, die in der Erarbeitung von Qualitätsstandards bzw. in Vertragsverhandlungen mit Krankenkassen eingesetzt wird.

Seit 1. Januar 2022 gehört die enterale Ernährung zum neu geschaffenen Versorgungsbereich VB 03F15 und fällt damit gänzlich in den Geltungsbereich der § 126 und 127 des SGB V. Wie bewertet der VVHC diese Neuerung?
Der GKV-Spitzenverband hat den Versorgungsbereich der enteralen Ernährung in den Kriterienkatalog zur Präqualifizierung aufgenommen. Zur enteralen Ernährung gehören sowohl die Trink- als auch die Sondennahrung. Die Vorgaben zur Präqualifizierung sollten nach meiner Einschätzung seitens der betroffenen Homecare-Unternehmen und Sanitätshäuser erfüllt werden können.
Bei der Betrachtung der bisherigen Versorgung muss man resümieren, dass die Trink- und Sondennahrung bisher ja auch nicht einfach so an Patientinnen und Patienten abgegeben wurde. Maßgebend war die therapeutische Begutachtung des Patienten, die Kommunikation mit dem behandelnden und verordnenden Arzt und die Kommunikation mit den Patienten bzw. deren Angehörigen. Und dann kamen bzw. kommen noch die existierenden Kassenverträge hinzu, ohne die eine Versorgung bzw. Abrechnung ohnehin nicht möglich war.

Die zum 1. Januar 2022 in Kraft getretene Präqualifizierung für Trink- und Sondennahrung ist letztendlich ein weiterer Baustein zum Nachweis der Versorgungsberechtigung bzw. -befähigung.

Unternehmen, die in der enteralen Ernährung aktiv sind, müssen sich nun präqualifizieren lassen. Der Übergangszeitraum ist jedoch teilweise recht knapp bemessen und die PQ-Stellen sind gut ausgelastet. Sind hier Probleme vorprogrammiert?
Das ist in der Tat eine interessante Fragestellung, weil es hier ja nicht nur auf die Homecare-Unternehmen angekommen ist bzw. ankommt. Lassen Sie mich das etwas genauer erläutern.
Die Präqualifizierungsstellen (PQS) mussten sich ja auch für den neu geschaffenen Versorgungsbereich 03F15 bei der Deutschen Akkreditierungsstelle (DAkkS) akkreditieren lassen, um die entsprechende Prüfberechtigung für die PQ-Verfahren zu erhalten. Ohne diese Akkreditierung durften bzw. dürfen die PQS keinen Leistungserbringer für diese neuen Versorgungsbereiche präqualifizieren. Dies gilt auch für den Versorgungsbereich 03F15. Mit Sicherheit haben etliche PQS frühzeitig die Akkreditierung für den Versorgungsbereich 03F15 bei der DAkkS beantragt. Aber schon hier besteht ggf. eine erste zeitliche Hürde.

Positiv anzumerken ist, dass es für den Versorgungsbereich 03F15 keine signifikanten neuen Anforderungen gab bzw. gibt. Insofern dürfte hier eine Präqualifizierung nicht sehr aufwändig sein, wenn Homecare-Unternehmen und Sanitätshäuser bereits für Versorgungsbereiche in diesem Bereich (03A – 03E) präqualifiziert sind. Die Dauer eines PQ-Verfahrens hängt auch von der Zeit ab, die ein Leistungserbringer benötigt, um den Antrag zu stellen und alle geforderten Dokumente bei seiner PQS einzureichen.

Den Nachweis einer Präqualifizierung für den Versorgungsbereich 03F15 sollte also zeitnah möglich sein, wenn a) die beauftragte PQ-Stelle eine Akkreditierung frühzeitig bei der DAkkS beantragt hat und b) der Leistungserbringer und potenzielle Vertragsteilnehmer frühzeitig einen entsprechenden Änderungsantrag bei seiner PQ-Stelle gestellt und zeitnah die geforderten Unterlagen beigebracht hat.

Der VVHC hat alle Vertragspartner angeschrieben, die vom neuen PQ-Bereich betroffen sind. Welche Rückmeldungen haben Sie hier?
Wir haben unsere VVHC-Mitglieds­unternehmen bereits Ende 2021 aufgefordert, sich umgehend um die neue Präqualifizierung zu kümmern. Ich denke, die meisten Unternehmen haben dieses Thema zeitnah angepackt und umgesetzt. Letztendlich kommt es auf eine vernünftige Kommunikation mit der jeweils zuständigen PQ-Stelle an, die nach meinen Erfahrungen die Unternehmen tatkräftig unterstützen.

Wie gehen die Krankenkassen mit der Neuerung um?
Nach meinen bisherigen Erfahrungen sind die Krankenkassen daran interessiert, offen und partnerschaftlich mit diesem Thema umzugehen. Natürlich gibt es seitens einzelner Kassen Hinweise, bis wann die neue PQ nachgewiesen sein soll bzw. Hinweise auf Übergangsfristen. Das ist ja auch legitim.

Aber letztendlich sind doch alle daran interessiert, für die Versicherten bzw. Patienten eine nahtlose und bestmögliche Versorgung sicherzustellen. Und es ist zu beachten, dass wir hier von der Ernährung eines Menschen sprechen, also einem existenziellen Grundbedürfnis.

Die Enterale Ernährung wurde 2019 vom Gesetzgeber explizit vom Ausschreibungsverbot ausgenommen mit der Begründung, die negativen Auswirkungen von Ausschreibungen hätten sich „bei bilanzierten Diäten zur enteralen Ernährung nicht gezeigt“. Sehen Sie hier Bewegung in der Diskussion?
Ich möchte diese Formulierung aus zwei Gründen so nicht stehen lassen. Zum einen wurde das Ausschreibungsverbot ausschließlich für Hilfsmittel „erlassen“, es gab im Umkehrschluss keine ausdrückliche Ausnahmen für andere Produktbereiche. Zum anderen konnten keine negativen Auswirkungen gezeigt werden, weil es keine Ausschreibungen für die enterale Ernährung gab.

Ich möchte hier nochmals betonen, dass mit der enteralen Ernährung, die in der Regel über eine Sonde in den Körper eines Menschen geführt wird, dessen existenzielles Grundbedürfnis sichergestellt wird. Das menschliche Leben sollte hier oberste Priorität haben. Preisdiskussionen, die ggf. über ein Menschenleben entscheiden, sind in der heutigen Zeit Fehl am Platz.

Im Jahr 2020 kritisierten Sie im Gespräch mit MTD u. a., dass bei der enteralen Ernährung der Eindruck entstehe, manche Verhandlungen mit Krankenkassen würden nur noch „pro forma“ geführt, obwohl für die Kassen offensichtlich bereits alles in trockenen Tüchern sei. Wie hat sich diese Thematik seither entwickelt?
Bei diesem Thema ist grundsätzlich eine differenzierte Betrachtung notwendig. Ich betone gerne immer wieder, dass es nicht „die Kassen“ gibt, sondern dass unterschiedliche Kassen unterschiedlich agieren. Unser Ziel ist es weiterhin, mit Kassen in offenen und konstruktiven Gesprächen zu gemeinsamen Lösungen zu gelangen. Das setzt voraus, dass auf beiden Seiten eine Offenheit bestehen muss, den Argumenten der Gegenseite zuzuhören und diese auch mal entgegen der eigenen Auffassung zu akzeptieren.

Der Bereich Homecare ist nun mal sehr komplex und basiert auf funktionierenden Netzwerken aller Beteiligten im Gesundheitswesen. Es geht nicht um „Pakete schieben“ mit einem Call-Center im Hintergrund, sondern um funktionierende und lückenlose Abläufe ab dem Zeitraum Krankenhausentlassung bzw. der Übernahme der Versorgung (wenn der Patient nicht aus dem Krankenhaus kommt). Es ist ein professionelles Zusammenspiel, was heutzutage teilweise als selbstverständlich mitgenommen wird, nur weil sich Homecare-Unternehmen und Sanitätshäuser intensiv darum kümmern, dass es funktioniert.

Einfach billige Preise in den Raum werfen kann jeder, Homecare ist wesentlich mehr. Und – nicht ein niedriger Preis definiert Wirtschaftlichkeit, sondern das Ergebnis der gesamten Patientenversorgung. Was nützt eine günstige Hilfsmittelversorgung, wenn der Patient wegen Mangelernährung in die Klinik muss oder wegen einer Harnwegsinfektion regelmäßig Antibiotika benötigt.

Sehen Sie auch positive Beispiele für Vertragsverhandlungen mit Kassen in diesem Versorgungsbereich?
Die sehe ich durchaus, weil es nach wie vor Krankenkassen gibt, mit denen Gespräche auf Augenhöhe bzw. in gegenseitiger Akzeptanz möglich sind. Das bedeutet nicht, dass alle Forderungen des VVHC in Verhandlungen aufgenommen und umgesetzt werden. Es bedeutet jedoch, dass wir mit den Kassen alle Themen, die besprochen werden sollten, gemeinsam diskutieren und einer Lösung zuführen. Das setzt letztendlich, wie bereits erwähnt, voraus, dass uns auch zugehört wird und die Bereitschaft besteht, unsere Argumente verstehen zu wollen. Das bedeutet aber auch, dass unsere Argumente stichhaltig sein müssen.

Wie bewerten Sie die aktuelle Erstattungslage für den Bereich der enteralen Ernährung, insbesondere vor dem Hintergrund von über zwei Jahren Corona, steigenden Kosten in allen Bereichen inkl. dem eskalierenden Ukraine-Konflikt?
Ich möchte es bewusst allgemein formulieren: Ich sehe die Erstattungslage insbesondere dort sehr angespannt, wo Pauschalen für Überleitsysteme und bilanzierte Diäten bezahlt werden. Diese Pauschalen existieren bereits seit Jahren, ohne dass diese z. B. an die Inflationsrate bzw. an die Grundlohnsummensteigerung angepasst wurden.

Ich denke es ist unstreitig, dass die Kosten für Personal, Energie – insbesondere Strom und Benzin – und Rohstoffe teilweise signifikant gestiegen sind. Hier befinden wir uns innerhalb des VVHC in einer Analysephase, um mit Fakten detailliert darlegen zu können, wie sich die Kosten in ausgewählten Bereichen entwickelt haben, wie sich das auf Homecare-Unternehmen und Sanitätshäuser auswirkt, und wo begründeter Anpassungsbedarf besteht.

Auch im Bereich enteraler Ernährung tummeln sich Hersteller im Markt, die Betroffene lieber direkt betreuen und damit direkte Wettbewerber der Homecare-Unternehmen sind. Ein Thema, das für Spannungen sorgt. Welche Position und Strategie verfolgt hier der VVHC, in dem Hersteller und Leistungserbringer sowie deren Gruppen vertreten sind?

Wenn es um das Thema Wettbewerb und Marktverteilung der VVHC-Mitglieds­unternehmen geht, verfolgt der VVHC keine Strategie, ganz im Gegenteil. Es ist einzig und alleine Aufgabe der Unternehmen, unabhängig ihrer Größe, sich um ihren Markt inkl. der vorhandenen Wettbewerber selbst zu kümmern.

Wenn es um Qualitätsstandards geht, um allgemeine Vertragsinhalte einer Krankenkasse, um Qualitätsparameter für eine optimale Patientenversorgung oder Inhalte einer Versorgungsstudie, suchen wir gerne gemeinsame Lösungen mit allen Beteiligten. Darüber hinaus gibt es klare kartellrechtliche Grenzen, die wir einhalten.

Jüngst gab es auf Leistungserbringerseite Aufregung durch den Vorstoß der AOK Bayern in Sachen PEG-Verbandwechsel-Sets. Der VVHC hat hier vermittelt, richtig?
Ja, das ist korrekt. Die AOK Bayern hatte vor einigen Wochen Mitgliedsbetriebe einer Verbundgruppe in Süddeutschland per Telefon darüber informiert, dass man die im Rahmen der Versorgung mit enteraler Ernährung eingesetzten PEG-Verbandwechsel-Sets ab 1. April 2022 mit zwei Euro pro Stück vergüten wird und die bislang gültige AEP-Regelung keine Anwendung mehr findet.
Ende März verhandelten deshalb unter unserer Federführung Vertreter von Leistungserbringerseite mit der AOK Bayern im Rahmen eines sehr konstruktiven inhaltlichen Austauschs ein neues Vergütungspaket. Es umfasst folgende Punkte:

  • Eine Abrechnung pro Verbandset von bis zu 3 Euro brutto beanstandet die AOK Bayern nicht,
  • Fortbestand der Vergütung von AEP + 9 % + MwSt. für sonstige Verbandmittel (nicht PEG-Sets),
  • abschließendes Ziel beider Seiten ist eine gemeinsame schriftliche Vereinbarung für den Bereich der hier verhandelten Verbandsstoffe sowie weitere Gespräche mit Blick auf eine übergreifende Verbandmittelvereinbarung zwischen der AOK Bayern und dem VVHC.

Die AOK Bayern hat sich hier gesprächsbereit gezeigt und sich intensiv mit der Sachthematik auseinandergesetzt. So konnten wir eine gemeinsame Lösung finden, die zum einen dem Wirtschaftlichkeitsgedanken der AOK Bayern Rechnung trägt, und zum anderen weiterhin eine optimale Versorgung garantiert.

Herr Bertram, wir bedanken uns für das interessante Gespräch.

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Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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