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17. Oktober 2018
Redaktion
Qualität der Hilfsmittelversorgung

Krankenkassen unterschreiten oft die rote Linie

Seit 2007 das GKV Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) eingeführt wurde und 2009 das Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstruktur in der GKV (GKV-OrgWG), hat sich in der Hilfsmittelbranche viel geändert. Das ernüchternde Resümee: Für die Patienten hat sich dadurch nichts verbessert.
Foto: ra2 studio/Fotolia
Foto: privat
Simone Maisch

Voraussetzung für die Lieferung von Hilfsmitteln ist seit 2007 ein Vertrag zwischen den Leistungserbringern und den Krankenkassen. Eine Lieferung ohne Vertrag ist seitdem nur noch in Ausnahmen möglich. Dabei schrieb das GKV-WSG vor, dass die Verträge vorrangig durch Ausschreibungen geschlossen werden sollten. Diese Verpflichtung zur Ausschreibung wurde bereits 2009 mit dem GKV-OrgWG relativiert, sie wurde in eine Kann-Regelung umgewandelt. Seither gilt: Ausschreibungen sollen nur durchgeführt werden, soweit sie zweckmäßig sind. Wenn keine Ausschreibungen durch­geführt werden, werden Verträge durch Verhandlung und Beitritt geschlossen.

Vertragsabsichten versus Ausschreibungen

Bis 2007 haben die Leistungserbringer bzw. deren Verbände hauptsächlich mit den vor Ort ansässigen oder den bundesweiten Krankenkassen Verträge geschlossen. Die Anzahl der Verträge blieb dabei für die Leistungserbringer überschau- und handhabbar. Mit der Einführung des GKV-WSG hat sich die Situation allerdings geändert. Die Krankenkassen fingen an, die gesetzlichen Regelungen umzusetzen, Leistungserbringer und Verbände mussten sich mit Ausschreibungen und einer deutlich höheren Anzahl von Vertragsverhandlungen auseinandersetzen. So wurden in den 11 Jahren seit Inkrafttreten des Gesetzes bis zum Ende des vergangenen Jahres 856 Bekanntmachungen herausgegeben, da­von waren 649 Vertragsabsichten und 207 Ausschreibungen.

Grafik: RSR
Anzahl der Ausschreibungen und Verträge 2007 bis 2017

Inko, MT und TENS-Geräte sind Ausschreibungslieblinge

Während im ersten Jahr von den Krankenkassen noch häufig ausgeschrieben wurde, veränderte sich die Situation bereits 2008. Seitdem werden Verträge vorrangig auf dem Verhandlungswege geschlossen. Die ersten Ausschreibungen 2007 und 2008 betrafen die Produktgruppe 15 (Aufsaugende Inko): Hier gab es fünf Ausschreibungen im Jahre 2007 und acht Ausschreibungen 2008. Weitere Produktgruppen folgten schnell: Medizintechnik (PG 14), TENS-Geräte (PG 09) und im Rehabereich vor allem Rollstühle (PG 18) und Gehhilfen (PG 10).

Interessant ist, dass diese Produktgrup­pen auch von 2007 bis Ende 2017 Spitzenreiter bei den Ausschreibungen sind:

  • Produktgruppe 09 (TENS-Geräte) – 38 Ausschreibungen
  • Produktgruppe 14 (Medizintechnik) – 37 Ausschreibungen
  • Produktgruppe 15 (Inkontinenzartikel) – 37 Ausschreibungen
Grafik: RSR
Ausschreibungen 2007–2017 nach Versorgungsbereichen. *Sonstige: PG 07, 25 und sonstige

Im Rehabereich liegen die Produktgrup­pe 18 (Rollstühle) mit 23 Ausschreibungen und die Produktgruppe 10 (Gehhilfen) mit 17 Ausschreibungen an der Spitze. Anmerkung: In unserer Statistik sind alle Ausschreibungen zu den einzelnen Produkten berücksichtigt; es handelt sich ggf. um einzelne Ausschreibungen oder Ausschreibungen über mehrere Pro­dukte.

Medizintechnik und Reha liegen vorn

Analysiert man die Zahlen nach Versorgungsbereichen, so fällt auf, dass die Medi­zintechnik von 2007 bis 2017 mit 82 Ausschreibungen vorne liegt. Hierzu ge­hören Produkte wie TENS und CPAP. Mit 75 Ausschreibungen folgt die Rehatechnik, gefolgt von den Homecare-Produkten mit 41 Ausschreibungen.

Sind Ausschreibungen das Ende des Fachhandels?

Allerdings hat sich der Schwerpunkt der Ausschreibungsaktivitäten in den zu­rück­liegenden Jahren verlagert. In den ersten Jahren wurde vermehrt im Homecare-Bereich ausgeschrieben. In der Folge sind Kostenträger häufig wieder zu Verträgen nach § 127 Abs. 2 SGB V übergegangen – unter weitgehender Übernah­me der Ausschreibungspreise in die Verträge.
In der Folge hat sich der Markt deutlich gewandelt. Typische Produkte der Sani­tätshäuser, wie z. B. die aufsaugende Inko, werden heute überwiegend von den Herstellern geliefert.

Auch die Verträge, in denen der durch die früheren Ausschreibungen festgelegte Preis festgeschrieben wird, werden überwiegend durch Hersteller verhandelt. Ausschreibungen finden hier kaum mehr statt. Eine ähnliche Entwicklung ist bei CPAP-Geräten zu beobachten. Auch hier sind Hersteller inzwischen zu Leistungserbringern geworden. In diesem „Herstellermarkt“, der von einem deutlichen Preisverfall gekennzeichnet ist, haben klassische Leistungserbringer kaum noch eine Chance. Viele haben sich inzwischen aus diesen beiden Produktgruppen zurückgezogen.

Wenn die Krankenkassen nicht riskieren möchten, dass ihnen in Zukunft durch die wenigen ggf. verbliebenen Lieferanten wie Hersteller oder kapitalstar­ke, investorengeführte Unternehmen die Preise und Versorgungsbedingungen diktiert werden, sollte dringend ein Umdenken erfolgen.
Einige Kassen haben die Stärke und die Bedeutung einer wohnortnahen Versorgung durch lokale Anbieter erkannt und werden hier beim Abschluss wirtschaftlicher Verträge durch den RSR und dessen Partner aktiv unterstützt. Für alle anderen Kassen, die derzeit noch einen anderen Weg gehen: Der RSR ist gerne und
jederzeit gesprächsbereit.

Preisverfall am Beispiel „Aufsaugende Inko“

Bei Produkten aus dem Bereich „Aufsaugende Inko“ ist der Preisverfall durch die Ausschreibungen sehr gut zu erkennen: Seit 2007 ist der Preis um 63 Prozent gefallen und hat sich seit 2016 auf niedrigem Niveau stabilisiert. Damals wurde diese Produktgruppe zum letzten Mal ausgeschrieben, der „Marktpreis“ wurde gefunden und ist seitdem in den Verhandlungsverträgen zu finden.

Grafik: RSR
Preisverfall bei Produkten aus dem Bereich „Aufsaugende Inko“ 2007 bis 2017

Mehr Aufzahlungen am Beispiel „Aufsaugende Inko“

Der Preisverfall hat zur Folge, dass die Versicherten immer mehr mit wirtschaftlichen Aufzahlungen konfrontiert werden. So zeigte eine Umfrage unter Versicherten im Jahr 2015, dass rund zwei Drittel der Befragten mehr als fünf Euro monatlich als Eigenanteil tragen muss­ten, im Schnitt sogar 31,40 Euro. Addiert man das zu dem Preis, den die Leis­tungs­erbringer/Hersteller von den Kassen erhalten, ergibt sich in vielen Fällen sogar eine deutliche Preissteigerung für diese Produkte – zulasten der Versicherten.

Die Patienten zahlen die Zeche

Dieses Beispiel verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Ausschreibungspreisen und wirtschaftlichen Aufzahlungen: Sinken die Preise, dann steigen die Aufzahlungen. Den Preis des „Wettbewerbs“ durch Ausschreibungen zahlen am Ende die Versicherten. Aus unserer Sicht sind das versteckte Beitragserhöhungen für die Versicherten, die von einigen Krankenkassen bewusst in Kauf genommen werden.
Ob die Intervention des Gesetzgebers durch das HHVG 2017 hier wesentliche Veränderungen bewirken kann, darf angesichts der „weichen Beschreibungen“ der Lieferkriterien im Hilfsmittelverzeichnis bzw. in den Verträgen bezweifelt werden. Aus Sicht des RSR jedenfalls reichen die aktuellen gesetzlichen Bestimmungen nicht aus, um eine wirklich ausreichende Versorgungsqualität zu angemessenen (auskömmlichen) Preisen wirk­lich sicherzustellen.

KKH ist die Ausschreibungskasse Nr. 1

Wertet man die Zahlen nach Kranken­kas­sen aus, dann zeigt sich, dass die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) der Spitzenreiter unter den Ausschreibungs-Krankenkassen ist. Sie hat bis Ende 2017 32 Ausschreibungen bekannt gegeben und durchgeführt. Zusätzlich hat sie 33 Vertragsabsichten herausgegeben. Auf Platz 2 hinter der KKH rangiert die AOK Sachsen-Anhalt mit 17 Ausschreibungen und 22 Vertragsabsichten. Danach folgen die DAK (15/18) die AOK Rheinland/HH (14/24) und die AOK Hessen (14/23).

Grafik: Welt der Krankenversicherung; Ausgabe 10/2015
Aufzahlung bei saugenden Inkontinenzprodukten
Grafik: RSR
Die Top Ten der Krankenkassen bei Ausschreibungen – Zeitraum 2007 bis Ende 2017

Und jetzt noch Open House

Unter den Bekanntmachungen der KKH sind auch einige Open-House-Verträge zu finden. Mit solchen Verträgen wollen die Krankenkassen die gesetzlichen Rege­lungen des § 127 SGB V umgehen, indem sie Preise und Prozesse selber festsetzen und diese Verträge zum Beitritt anbieten.
Diese Vorgehensweise, die im Arzneimittelbereich üblich und rechtens ist, halten wir in unserer Branche allerdings für rechtswidrig. Denn dieses Prozedere ist in § 127 SGB V nicht vorgesehen und damit nicht auf Hilfsmittelverträge übertragbar. Diese Auffassung wird auch vom Bundesversicherungsamt als zuständige Aufsichtsbehörde der bundesunmittelbaren Krankenkassen (BVA) sowie dem Bundesministerium für Gesundheit geteilt.

Plus bei Vertragsabschlüssen und Verwaltungsaufwand

Anfang 2007 hatte der RSR 23 Verträge, bis Ende 2017 schließlich 321 Krankenkassenverträge geschlossen. In dieser Zeit ist aber nicht nur die Anzahl der Verträge erheblich gestiegen, sondern auch der damit zusammenhängende Verwaltungsaufwand. Hier sind heute vor allem Themen wie Beratungsdokumentation, Erfassung der Aufzahlungsbeträge, Daten­schutz-Grund­verordnung (DSGVO) und Medizinbetreiberverordnung (MPBetreibV) von großer Bedeutung. Bemü­hungen, den Verwaltungsaufwand zu senken, sind bisher gescheitert – und das, obwohl dies in § 6 SGB V seit Jahren gesetzlich vorgesehen ist.

Ein Jahr HHVG: Was hat es uns gebracht?

Die Politik hat aktuell erkannt, dass nicht alle Produkte ausschreibungsfähig sind. Mit dem HHVG vom April 2017 wurde deshalb u. a. festgelegt, dass

  • dienstleistungsintensive Versorgungen oder Versorgungen von individuell hergestellten Produkten nicht ausschreibungsfähig sind,
  • eine Ausschreibung nicht nur den Preis, sondern auch die Qualität berücksichtigen muss. Hier wurde eine Quote „Qualität zu Preis“ von 50:50 festgelegt.

Leider ist zu beobachten, dass einige Krankenkassen sich nicht an diese Regelungen halten. So hat die DAK z. B. nach dem April 2017 Stomaversorgungen ausgeschrieben. Diese Versorgung ist aus unse­rer Sicht sehr beratungsintensiv. Bei der Umsetzung der 50:50-Regelung machen die Kostenträger geltend, dass Abweichungen möglich sind, soweit auch in der Leistungsbeschreibung höhere Anforderungen an die Versorgung gestellt werden.
Auch wenn das Bundesversicherungsamt diese und auch weitere Ausschreibungen erst einmal beanstandet hat:
Eine endgültige Entscheidung, ob diese Ausschreibung rechtmäßig ist, steht noch aus (Stand: Mitte August 2018).

Mehraufwand für Sanitätshäuser

Auch bei den Vertragsverhandlungen stoßen wir immer wieder an unsere Grenzen. So ist bei Themen wie Dokumen­tation, wirtschaftliche Aufzahlung und Vertrags-Controlling, aber auch bei der Datenschutz-Grundverordnung, der Aktu­alisierung des Hilfsmittelverzeichnisses, der MPBetreibV, den Formularen und den Genehmigungs-Freigrenzen bei Kos­tenvoranschlägen derzeit keinerlei Verwaltungsvereinbarung zu erreichen. Das führt zu Unklarheiten, erheblicher Mehrarbeit und erhöhter Fehleranfälligkeit bei den Sanitätshäusern.

Gut gemeint, aber nicht gut gemacht

Von der Politik sind in den vergangenen Jahren einige gut gemeinte gesetzliche Regelungen geschaffen worden. Allerdings bedeutet gut gemeint nicht gleich auch gut gemacht! Denn diese Regelungen müssen von allen Playern einheitlich umgesetzt und eingehalten werden, da­mit die Qualität, die durch diese Regelungen gewünscht wird, auch bei den Versicherten ankommt. Wenn es den Krankenkassen weiter ermöglicht wird, am Ende doch nur auf den Preis der Versorgung zu schauen und nicht endlich der unnötige Berg an Verwaltung abgebaut oder doch zumindest deutlich redu­ziert werden kann, wird trotz aller gesetzgeberischen Bemühungen nur eines erreicht werden: eine weiter sinkende Versorgungsqualität.

Die Realität heute sieht leider genau so aus: Die Qualität der Versorgung ist gesunken, der bürokratische Aufwand hat sich deutlich erhöht und die Patienten zahlen am Ende durch teilweise erhebliche Aufzahlungen auch noch drauf. Das ist sicherlich so nicht gewollt. Hier sind die Krankenkassen gefordert, gemeinsam mit den Leistungserbringern sinnvolle, schlanke und pragmatische Lösungen zu finden. Wenn es den Marktteilnehmern nicht gelingt, hier sinnvolle Lösungen im Interesse der Patienten zu finden, wird der Gesetzgeber weiter regu­lierend eingreifen müssen.

 

von Simone Maisch (Leitung Vertragsmanagement, RSR – Reha-Service-Ring)

MTD Medizintechnischer Dialog 09 / 2018

Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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